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Leseprobe Secret Project

Prolog
Es sollte unmöglich sein, ein so vollkommenes Geschöpf wie dieses Baby zu töten. Und doch hatten es unzählige Mütter vor ihr getan. Amaza schluchzte leise und presste sich eine Hand vor den Mund, die andere lag auf ihrer Brust neben ihrem Neugeborenen. Das kleine Mädchen umklammerte ihren Zeigefinger mit einer Kraft, die ein solch winziges Wesen nicht haben sollte. Mit ihren dunklen Haaren, den schwarzen Augen und der porzellanweißen Haut war sie perfekt.
Fast perfekt.
Amaza blinzelte die Tränen weg. Der Geruch von Schweiß und Blut hing in der Hütte. Klebrig wie Honig haftete er an der dünnen Matratze, auf der sie lag. In einer der drei Holztruhen, die als einzige andere Möbelstücke in dem großen Wohnraum standen, lagen die Babystrampler. Die würde sie jetzt nicht mehr brauchen. Zärtlich fuhr Amaza mit dem Daumen über die Fußsohle des Mädchens. Wenn sie ihren Finger auf den Ballen presste, sah man es gar nicht. Dann war ihr Neugeborenes nur ein Baby, wie jedes andere.
Während die Kleine friedlich auf ihrer Brust schlummerte – sie wusste nichts von ihrem Unheil – verschwommen die Flammen in der Feuerstelle vor Amazas Augen. Der Druck um ihr Herz wurde so groß, dass sie glaubte, es müsse im nächsten Moment zerbersten. Allein der Gedanke, das Unaussprechliche zu tun …
Knarrend wurde die Tür aufgeschoben, und die Viertelälteste trat ein. So früh? Die Nachgeburt war nicht mal hinter dem Haus vergraben. Auf einen Stock gestützt und in ein weißes Hanfkleid gewandet, hinkte sie über die geometrisch angeordneten Matten aus gepresstem Reisstroh. Weiß. Die Farbe für Beerdigungen. Etwas blitzte in der Hand der Alten auf. Ächzend beugte sie sich zu ihr herunter und legte das glänzende Stück Stahl auf Amazas entblößten Bauch. Amaza zuckte zusammen, das kalte Messer war wie Eiswasser auf ihrer Haut.
»Tu es gleich«, sagte die Viertelälteste. Sie hatte ihre grauen Haare sorgsam mit zwei roten Stäbchen zu einem Dutt festgesteckt. »Es wird nur schlimmer, wenn du länger wartest.«
Eine heiße Träne rann Amazas Wange hinunter und mischte sich mit dem Schweiß an ihrem Hals. »Ich kann nicht«, flüsterte sie. Keine Mutter wünschte sich ein gezeichnetes Kind. Natürlich nicht. Und doch wusste jede Schwangere, was sie zu tun hatte, sollte es dennoch so kommen: dem Gesetz des Gottkaisers folgen.
»Du musst.« Die Stimme der Viertelältesten war hart und unbarmherzig wie eine Klinge aus katonischem Stahl, benannt nach dem Gott des Lebens und des Feuers höchstpersönlich. Der Blick der alten Frau haftete an dem winzigen, sternförmigen Mal an der linken Fußsohle des Mädchens. Es war so klein, dass man es leicht hätte übersehen können. Doch die Gesandten des Gottkaisers hatten sie gründlich untersucht.
Laut dem Gottkaiser hatten sich die Gezeichneten des Verrats schuldig gemacht. Das Sternenmal auf ihrer Haut sei ein Zeichen für den Diebstahl, den sie begangen hätten. Sie hätten sich noch vor ihrer Geburt ungerechtfertigt ein Stück der Macht des Himmels genommen. Ihre Strafe war der Tod, die einzige Möglichkeit, diesen Fehltritt zu büßen.
Amaza schüttelte den Kopf, und ihre schweißnassen Haare raschelten. Nein, dieses Mädchen hatte niemandem etwas gestohlen. Und trotzdem würde es sterben müssen. Liebevoll fuhr Amaza mit ihrem Zeigefinger über die winzige Stupsnase, und die Kleine seufzte leicht im Schlaf.
»Amaza!«, warnte die Viertelälteste.
»Lass mich sie wenigstens im Fluss ertränken. Ich kann diese perfekte Haut nicht mit einer Klinge zerstören.«
»Wenn ich nach der Feier zurückkomme, will ich sie hier nicht mehr sehen.« Die Viertelälteste hinkte an der Matratze vorbei, griff nach der Schiebetür und drehte sich im Rahmen um.
Von draußen wehte der Duft nach Jasminblüten und grünem Tee herein. Und mit ihm der Klang der Trommeln und Lobgesänge – die Feierlichkeiten zum Tag der Mitte waren in vollem Gange. Kurz verzog die Viertelälteste das Gesicht. Ein schwaches Zeichen des Mitleids für eine verzweifelte Mutter, deren Seele nie mehr dieselbe sein würde. »Es ist das Beste. Für uns alle.«
Energisch schob die alte Frau die Tür hinter sich zu. Die darauffolgende Stille fühlte sich genauso falsch an wie das Mal auf der Haut ihres Mädchens.
Mit Tränen in den Augen und verkrampftem Herzen betrachtete Amaza ihr Neugeborenes. »Es tut mir so leid«, flüsterte sie.
Sie setzte sich auf. Ihr war schwindlig, und für drei Herzschläge wurde ihr schwarz vor Augen. Vorsichtig rutschte Amaza zur Kante der Matratze. Auf der Reisstrohmatte davor zeichnete sich eine dunkelrote Pfütze ab. Ihr eigenes Blut. Der Fleck, der zurückbleiben würde, würde sie für immer an ihre Schandtat erinnern.
In ein Baumwolltuch gewickelt und mit ihrem geliebten Seidenschal um den Hals, wuchtete sie sich hoch, die Kleine an die Brust gepresst. Sie taumelte zur Tür und stieß sie mit einer Hand zur Seite auf. Die Gasse dahinter war menschenleer. Nur die farbigen Wimpel, die zwischen die Strohdächer der Häuser gespannt waren, zuckten leicht im Wind. Heute war der Erhebungstag des Gottkaisers, und alle waren auf dem Marktplatz vor dem Tempel versammelt, um zu feiern.
Amaza schleppte sich an der Holzhütte mit ihrem überstehenden Dach vorbei. Das sanfte Rauschen des Flusses hinter dem Haus durchbrach die gespenstische Stille, und der Duft von Binsengras strömte ihr in die Nase. Ihr Leben lang würde ihr bei diesem Geruch schlecht werden.
Barfuß tapste sie über das vom Abendtau feuchte Gras bis hinunter ans Flussufer. Dort lag ein Wasserkobold, die schuppigen Füße im kühlen Nass. Fast wäre sie über ihn gestolpert. Normalerweise hätte sich Amaza über den Anblick der Kreatur mit smaragdblauer Haut gefreut – nicht aber heute.
Ein Schluchzer entfuhr ihr. Sie drückte die schlafende Kleine fester an sich, gab ihr einen Kuss auf den Scheitel und sog ein letztes Mal ihren wunderbaren Geruch ein. Dann presste sie die Augen zusammen und setzte den ersten Fuß ins Wasser. Es war angenehm kühl, doch die Steine waren glitschig, und Amaza rutschte aus. Beinahe entglitt das Kind ihren Armen. Die Kleine protestierte leise, klammerte sich mit einer winzig kleinen Hand an einer ihrer schwarzen Haarsträhnen fest.
»Ihr Götter, ihr alten Götter, bitte helft mir«, flehte Amaza flüsternd, wohlwissend, dass es sie den Kopf kosten würde, sollte sie jemand hören. Seit dem Tag der Erhebung vor hundertzweiundachtzig Jahren gab es nur einen Gott. Und das war der Gottkaiser.
Doch dann – als hätten die alten Götter sie erhört – flatterte ein bunter Paradiesvogel aus dem Dschungel auf. Der blau-gelbe Vogel gab einen rufenden Laut von sich und ließ sich auf einem hölzernen Bottich am Flussufer nieder. Eines der Waschweiber musste ihn stehen gelassen haben, in der Eile, schneller zu den Festlichkeiten zu kommen.
Amaza sah sich verstohlen um. In den engen Gassen war niemand zu sehen, die mit Papier bespannten Fenster waren geschlossen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. War es möglich? Als sie sich dem Bottich näherte, schlug der Vogel verärgert mit den Flügeln und flog davon. Die eine Hand um das Mädchen geschlungen, die andere um den Rand des Bottichs geklammert, watete Amaza so tief in den Fluss, dass das Wasser ihre Knie umspülte. Die mit Algen bewachsenen Steine drückten sich in ihre nackten Fußsohlen, doch sie stolperte kein zweites Mal.
Behutsam ließ sie das Holzgefäß zu Wasser. Es schwamm. Ein Geschenk der alten Götter. Amaza blickte sich erneut um. Keine Seele weit und breit. Vorsichtig löste sie die Finger des Neugeborenen aus ihren Haaren und legte das kleine Bündel in den Waschzuber. Das Baby quiekte, als es der Wärme der mütterlichen Brust entrissen wurde, schlief aber weiter. Amaza legte ihren Seidenschal, ein Erbstück ihrer Mutter, über das Mädchen und zeichnete ihr mit dem Finger einen halben Kreis auf die Stirn, eines der verbotenen Zeichen.
»Ich wünsche dir die Stärke, zu überleben, mein Kind«, flüsterte sie und gab dem Bottich einen Stups. Langsam trieb er in die Mitte des Flusses, wo er von der Strömung erfasst wurde.
»Kami, Göttin und Herrin des Todes und des Wassers, beschütze sie. Sie trägt dein Zeichen«, betete Amaza, bevor der hölzerne Bottich um die nächste Biegung verschwand.



Achtzehn Jahre später

Saya

Fast falle ich vom Dach, als mich unerwartet ein heftiger Windstoß erfasst. Ich gehe schnell in die Knie und klammere mich mit den Fingern an dem mit Pech bestrichenen Holzbalken fest. Normalerweise ist es mir ein Leichtes, auf einem Dachfirst zu balancieren. Ich habe das hier tausende Male gemacht, doch heute bin ich nervös.
Links von mir, jenseits des geschwungenen Dachs, geht die Hauswand beinahe nahtlos in die Felsnadel über, auf dem der Gebäudekomplex steht. Bei einem Sturz würden selbst die riesigen Dschungelbäume in zweihundert Schritt Tiefe meinen Fall nicht nennenswert abbremsen. Im Zweifel wäre es also besser, rechts herunterzustürzen. Dort geht es zwar über vier Stockwerke in die Tiefe, aber mit etwas Glück falle ich auf einer der Trainingspuppen, die im Innenhof stehen und mit getrockneten Bambusblättern gefüllt sind.
Am allerbesten falle ich gar nicht.
Ich warte den Windstoß ab, der den Geruch von Regen, Mangos und Dschungelblüten mit sich bringt. Dann richte ich mich wieder auf, rolle bedächtig die rechte Fußsohle ab und presse sie flach auf den Dachfirst. Durch die Lederschläppchen spüre ich jede Unebenheit im Holz. Allerdings nur rechts, links ist meine Sohle zerfurcht von Narben. Ein kläglicher Versuch meinerseits, das Sternenmal auf meiner Haut zu entfernen. Ich werde mein Leben lang eine Gezeichnete bleiben – außer natürlich, ich hacke mir das Bein ab.
Ich schüttele den Gedanken ab. Schließlich habe ich eine Aufgabe vor mir. Mein Leben ist nicht nur vorbei, wenn das Mal entdeckt wird, sondern auch, wenn ich von diesem verdammten Dach stürze. Oder die Prüfung vermassele.
Und ich werde nicht sterben. Nicht heute. Nicht hier. Ich werde diese erste Abschlussprüfung hinter mich bringen und die sechs folgenden. Ich werde eine Assassine und Spionin im Dienst des Gottkaisers sein. Und dann … dann werde ich sie alle umbringen. Einen nach dem anderen. Jeden einzelnen Namen auf meiner Liste. Mit Teno, dem Bastardsohn aus Haus Kotara, fange ich an. Er hat mich meiner Freiheit beraubt, meiner Unschuld. Ich werde ihm seine Liebsten nehmen, genau wie er mir meine genommen und mich damit zu diesem Leben verdammt hat. Doch dafür muss ich das hier schaffen.
Eilig balanciere ich den Dachfirst entlang und versuche abzuschätzen, wann das Fenster unter mir liegt, dann blicke ich über meine Schulter. Gerade befinde ich mich etwa auf der Hälfte, das sollte reichen.
Ich gehe in die Hocke und lasse die Beine zur linken Seite heruntergleiten. Flach lege ich mich auf die Keramikschindeln und schlitterte beinahe lautlos das Dach herunter. Obwohl ich meine Finger fest dagegen presse, was die Rutschpartie verlangsamt, geben die ledernen Scheiden meiner Dolche ein leises Schleifen von sich. Sie sind mit einem Gurt um meinen Oberkörper befestigt, genau wie meine Wurfpfeile. Bei einer solchen Mission kann man nie genug davon zur Hand haben. Zum Schmeißen, Festklemmen von Fenstern, Herausschneiden von Pfeilen oder natürlich Durchtrennen von Fleisch – die Einsatzmöglichkeiten sind unbegrenzt.
Ich spüre, wie meine Füße über die Dachkante rutschen. Ein kalter Schauer läuft mir den Rücken hinunter, als ich daran denke, wie tief ich fallen würde.
Keine Panik, Saya. Deine Gefühle sind Koi-Fische in einem Teich. Sei der Teich, nicht der Fisch. Mein Herz schlägt langsamer, und ich kralle mich mit aller Kraft in der Fuge zwischen zwei Dachschindeln fest. Die erste Prüfung von sieben. Dann noch zehn Jahre im Dienst des Gottkaisers, und ich bin frei. Ich schaffe das.
Tief hole ich Luft, die leichte Lederrüstung presst sich gegen meine Rippen. Jetzt kommt der schwierigste Teil: Ich muss das Holzgebälk unter dem Dach erreichen. Niemand hat gesagt, dass die erste Prüfung einfach sein würde.
Vorsichtig lasse ich mich ein Stück weiter hinunterrutschen, bis meine Unterschenkel in der Luft schweben. Zum Glück findet der kalte Wind keine Angriffsfläche an meiner weichen Hose aus Hirschleder, dafür schmiegt sie sich zu eng an meine Beine. Ein Vorteil. Allerdings sie ist so dünn, dass ich jede Unebenheit der Keramikdachschindeln spüre, und ich fröstle.
Meine Fingerspitzen sind weiß, so sehr wird das Blut daraus gepresst. Plötzlich geht ein Ruck durch meinen Körper, als meine Hüfte abknickt, kurz darauf baumeln meine Beine im Freien über der Kante. Ich hätte mir die Zeit nehmen sollen, bis ans Ende des Dachs zu balancieren. Am Giebel wäre es einfacher gewesen, an die Balken darunter zu kommen und mich von einem zum anderen zu hangeln.
Jetzt ist es zu spät.
Ein letztes Mal sammle ich mich, dann hebe ich unter großer Kraftanstrengung die Beine. Hätte ich nicht Jahre des Trainings, abertausende Liegestütze und Übungen zur Stabilisierung der Rumpfmuskulatur hinter mir, würde ich wahrscheinlich längst unkontrolliert zittern. So kommt mein Atem bloß in Stößen, als ich mit dem Fuß Holz erwische. Ich zwänge ihn in den engen Zwischenraum zwischen Balken und Dach, damit ich mich mit dem Knie einhaken kann. Die Lücke ist schmal, beide Beine kann ich nicht hineinstecken, aber für eines reicht sie aus.
Ich atme tief ein und schiebe meinen Oberkörpern mit den Fingern das letzte Stück über die Kante, bevor ich loslasse. Ein Ruck geht durch meinen Körper, als ich falle. Trotz meiner Muskelspannung hänge ich kopfüber unterm Dach wie eine Fledermaus. Zum Glück habe ich daran gedacht, meine schulterlangen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammenzufassen. Der Wind würde mir die schwarzen Strähnen erbarmungslos ins Gesicht wehen.
Für einen Herzschlag lausche ich, doch aus dem Haus dringt kein Mucks. Gut, weiter geht’s. Gleich habe ich es geschafft. Ein Stoß mit meinem Kampfmesser, und mein Zielobjekt ist tot. Wenn ich mich schlecht anstelle zwei. Aber erstmal muss ich ins Innere gelangen.
Meine Bauchmuskeln ächzen, als ich mich strecke und nach dem Balken greife. Es wird anstrengend, mich im Zangengriff daran entlangzuhangeln. Für die kurze Strecke bis zum Fenstersims sollte meine Kraft allerdings reichen.
Als meine andere Hand Halt findet, und löse ich das Bein aus der Verankerung im Gebälk. Und dann mache ich den Fehler: Ich sehe nach unten.
Der Felsen fällt schroff hin zur Seite ab. Ich werde mir alle Knochen brechen, bevor ich in den Baumkronen der Urwaldriesen lande. Diese berauschenden Höhen sind etwas, an das ich mich nach all den Jahren nicht gewöhnt habe. Trotz der Atemübungen zittert meine Hand. Bei den alten Göttern, flehe ich stumm. Jetzt bloß nicht die Nerven verlieren, sonst ist es das gewesen.
Endlich spüre ich den hölzernen Sims unter meinen Füßen, und atme leicht auf. Ich presse mein Ohr an das Papier, das über das Fenster gespannt ist, doch von der anderen Seite dringt kein Geräusch zu mir.
Mit einem metallischen Schleifen ziehe ich das Messer aus der Scheide an meinem Gürtel und schiebe die Spitze in den Spalt zwischen den zwei schwarzen Holzrahmen. Ganz langsam fahre ich mit der Klinge nach oben und entriegele mit einem leisen Schlag den Bolzen, der beide Fensterflügel zusammenhält.
Ich stoße einen nach innen und lande lautlos auf den Tatami-Matten aus gepresstem Reisstroh. Eine Silhouette liegt auf einer Matratze neben dem anderen Fenster. Die Steppdecke über ihr verhüllt den größten Teil ihres Körpers. Sonst gibt es nichts in diesem Raum, nur eine Tuschezeichnung des Gottkaisers an der Wand. Erneut horche ich, höre jedoch nichts.
Auf den Außenkanten meiner Fußsohlen schleiche ich geduckt auf die Person zu, die Finger fest um den Waffengriff meines Tantos gekrallt. Mein Zielobjekt scheint zu schlafen. Das Kampfmesser zuerst zwischen die dritte und vierte Rippe, ein sicherer Stich ins Herz. Danach die Halsschlagader durchtrennen, und das war’s. Ein letztes Mal hole ich tief Luft, dann geht alles ganz schnell.
Ich stürze nach vorn, reiße mit der linken Hand die Steppdecke zurück und stoße mit der rechten zu. Niemals zögern, volle Wucht und Entschlossenheit. Ich ziehe die Waffe aus dem Brustkorb und zertrenne so flink den Hals, dass der Kopf mit einem Klonk gegen die holzvertäfelte Wand kracht.
Das Gleiten der Tür lässt mich zusammenschrecken, und ich springe auf die Füße. Meister Matayagi hat die Arme vor der Brust verschränkt und betrachtet missbilligend den Schädel der Bambuspuppe, die mein Ziel war. Seine braune Haarpracht hat er zu einem strengen Dutt auf dem Hinterkopf zusammengebunden. Kein Haar schaut heraus. Der perfekte Lehrmeister.
Mir wird eiskalt. Heißt das, ich habe nicht bestanden? Scheiße, ich hätte prüfen sollen, ob sich im Nebenraum jemand aufhält. Wenn das hier ein echter Mensch gewesen wäre, hätte er vielleicht nicht geschrien, aber das sprudelnde Blut hätte sicher ein gurgelndes Geräusch von sich gegeben. Dann wäre ich aufgeflogen. Mit etwas Glück wäre ich aus dem Fenster geflohen, aber wohin?
Mein Mund ist staubtrocken, ich sinke auf die Knie und werfe mich auf den Boden, die ultimative Geste der Unterwürfigkeit. Wie es von mir erwartet wird. Wie es mir in den letzten Jahren das Überleben gesichert hat. Die Tatami-Matte unter mir riecht nach Staub, und ich beiße mir so fest auf die Wange, dass ich Kupfer schmecke.
Ein Fehler - und wenn auch noch so klein – der mich das Leben kosten könnte. Überdeutlich spüre ich die Sonne aus Gold, die sich unter der Rüstung in meine Wirbelsäule presst. Seit meinem ersten Tag hier habe und fürchte ich sie. Vor meinem inneren Auge flackert das Bild von Wanto auf, der am zweiten Tag versucht hat, zu fliehen. Er wurde mit meinem besten Freund Ryko und mir am selben Tag von der Straße geholt und hierher gekarrt. Wanto tat das, was wir alle insgeheim tun wollten: ausprobieren, ob die Sonne wirklich die Funktion erfüllte, die Meister Matayagi androhte. Tat sie. Er schaffte es keine zwanzig Schritte die Treppe der Felsnadel herunter, da sackte er in sich zusammen und … schrumpelte ein. Wie eine alte Pflaume. Sein Herz hörte auf zu schlagen, all sein Arys, seine Lebensenergie – verschwunden. Einfach so. Dieses Schicksal darf mir nicht widerfahren. Ich werde das hier zu Ende bringen.
»Saya, erhebe dich, habe ich gesagt.« Meister Matayagis Stimme ist schneidend. Seine erste Aufforderung muss ich überhört haben. Ich richte mich eilig auf, bleibe allerdings auf den Knien. Rücken gerade, die zu Fäusten geballten Hände auf der Brust überkreuzt. Wie es von mir erwartet wird.
»Du hast bestanden.« Die Worte sind so wohltuend wie eiskaltes Flusswasser in der Schwüle der Dschungelhitze. »Aber …«
Meine Fingernägel bohren Halbmonde in meine Handinnenfläche.
»… das war keine gute Leistung. Du wirst dich bei den folgenden Prüfungen mehr anstrengen müssen.«
»Ja, Meister.«
»Du bist entlassen.«
»Danke, Meister.« Die Eisenbänder um meine Brust fallen ab, und ich habe endlich das Gefühl, wieder atmen zu können. Ich verbeuge mich, die Handflächen flach auf die Reismatte gepresst, bis meine Nasenspitze den Boden berührt. Als ich mich aufrichte, ist Meister Matayagi verschwunden. So lautlos, wie es sich für einen Lehrer im Haus des Flüsterns und der Schatten gehört.
Ohne einen weiteren Blick auf die Attrappe zu werfen, drücke ich die Schiebetür zur Seite und schreite durch den leeren Raum dahinter. Hier lehnen diverse Kampfpuppen sowie Wurfscheiben für Dolche und Schlagstöcke aus Marmorholz an der steinernen Wand, sonst gibt es nicht mal einen Tisch. Die meisten Zimmer im Haus des Flüsterns und der Schatten sind so spärlich eingerichtet. Jeden Morgen müssen wir unsere Matratzen zusammenrollen und in Kisten verstauen, damit die Jüngsten im Schlafsaal trainieren können.
Ich trete auf die nächste Schiebetür zu, die mit weißem Seidenstoff bespannt ist. Darauf sind mit schwarzer Tinte die vier Felsnadeln gezeichnet – und auf jeder davon thront eines der vier Gebäude, mit ihren geschwungenen Dächern und den Verzierungen an Giebel und First. Der Maler hat sich die Zeit genommen, die winzigen Details einzuzeichnen, die sie voneinander unterscheiden. Auf dem Glockenturm des zweiten von rechts prangt ein nach oben geöffneter Halbkreis. Dieses Gebäude ist in den letzten Jahren zu meinem Zuhause geworden.
Leise schiebe ich die Tür zur Seite und spüre sofort die Präsenz einer anderen Person, das Pulsieren von Arys. Ryko lehnt an einem geöffneten Fenster. Auch im Sommer ist es hier oben auf der Felsnadel kühl im Vergleich zu den tropischen Temperaturen im Dschungel unter uns. Wie zur Bestätigung fegt eine kalte Brise herein und bringt das Glockenspiel am Ende des Gangs zum Klimpern.
»Woher wusstest du, wo ich bin?« Ich verschränke die Arme, und Ryko dreht sich zu mir um.
Bei seinem breiten Lächeln schmilzt der Rest meines beklemmenden Gefühls dahin. Er stößt sich vom schwarzen Fensterrahmen ab und zuckt mit den Schultern. »Ich hatte da so eine Vermutung. Außerdem: Assassine und Spion, schon vergessen?« Ryko deutet mit dem Daumen auf sich, und ich rolle mit den Augen. Seite an Seite gehen wir über den nackten Holzboden.
»Und?«, fragt er.
»Es war knapp, aber ich habe bestanden.«
»Ich sage dir, das wird ein Kinderspiel.« Ryko grinst, vergräbt die Hände in den Taschen seiner Lederhose und pfeift ein heiteres Liedchen. Wie er bei all den Schrecken der vergangenen Jahre seine Unbeschwertheit behalten hat, ist mir ein Rätsel.
Ich setze einen Fuß auf die Holztreppe, die in die unteren Stockwerke führt. Fast automatisch trete ich auf den äußeren Rand der Stufen, um selbst das leiseste Knarren von Holz zu vermeiden. Etwas, das mir über Jahre antrainiert wurde. Das Assassine-Sein ist mir in Fleisch und Blut übergangen.
Ich hole tief Luft und spreche das aus, was ich seit Tagen nicht gewagt habe, zu denken. »Tatsächlich bezweifle ich, dass die anderen Prüfungen so leicht sein werden. Es gibt neun Plätze. Allein wir sind fünfzehn. Wenn die anderen Häuser auch nur halb so viele Rekruten haben wie unseres, wird das ein Blutbad. Sie werden aussortieren.« Und mit Aussortieren meine ich töten. Auf die eine oder andere Weise.
»Wir haben es so weit geschafft. Die lächerlichen letzten sechs Abschlussprüfungen.« Er zwinkert mir zu und rempelt mich freundlich an. Ein wohliger Schauer läuft mir über den Rücken, und ich bekomme eine Gänsehaut. Diese Verbindung zwischen uns, sie war immer da, seitdem Ryko mich erwischt hat, als ich einen Kohlhändler bestehlen wollte. Doch wenn der Tod hinter jeder Ecke und auf jedem Dach lauert, ist keine Zeit für Liebe. Oder Gefühle.
Ich seufze und hake mich bei ihm unter, als wir das Erdgeschoss erreichen. »Möge der Gottkaiser deine Worte erhören.«
Ryko tätschelt liebevoll meine Hand, und allein bei dem Gedanken, einer von uns könnte das hier nicht überleben, wird mir schlecht.
Das unterste Stockwerk ist ein offener Saal, gestützt von massiven Holzsäulen, die einst weiß angestrichen waren. Irgendwann muss jemand beschlossen haben, die Farbe abzuschleifen, war dabei allerdings nicht besonders gründlich. Unter der hohen Decke sind die Säulen noch immer strahlend weiß. Bis dorthin hallt das leise Gemurmel der anderen Rekruten und das Klappern der Stäbchen, mit denen hier gespeist wird.
Ryko lässt mir den Vortritt, und wir gehen an den niedrigen Tischen vorbei. An der Tafel ganz rechts knien die Kleinsten vor ihren Reisschüsseln und schaufeln sich das Essen haufenweise hinein. Von den über Hundertzwanzig Schülern werden am Ende nur knapp mehr als ein Dutzend überleben, um das letzte Jahr anzutreten. So wie ich. So wie Ryko. Und das, obwohl die Kleinen im Haus des Flüsterns und der Schatten selbst bei einem »Yashi« verschont bleiben.
Wir kommen alle von der Straße. Wissen, dass das hier zwar eine Strafe, aber gleichzeitig die einzige Chance auf ein besseres Leben ist. Nach zehn Jahren im Dienst des Gottkaisers wäre jeder von uns so reich, dass er sich das gesamte Viertel kaufen könnte, in dem er aufgewachsen ist. Das ist es, worauf wir alle hoffen. Nein, hier würde niemand dem anderen freiwillig einen Dolch in den Rücken stoßen oder ihn vergiften. Im Haus des Mondes und der Stille soll es jedoch anders sein, habe ich gehört. Viel haben wir mit den anderen Häusern nicht zu tun, und ich bin froh darum.
Die Tafel der Kleinsten ist die längste. Es gibt drei weitere Reihen. Diese bestehen aus mehreren Tischen, jeweils einer für einen Jahrgang. Je höher der Jahrgang, desto kürzer der Tisch.
Ich steuere auf die Tafel vorne links zu, an der zwei Plätze frei sind. Dahinter thront der Tisch der Meister auf einem Podest aus Akazienholz. Meister Matayagi hat sich neben Meisterin Lashina niedergelassen, die ihre grauen Haare wie gewohnt unter einer Kapuze versteckt. Sie fängt meinen Blick auf, und ich verneige mich leicht, bevor ich mich hinknie.
»Na, heute wieder mal Reis?« Ryko lässt sich unelegant neben mich plumpsen und schenkt der Runde ein breites Lächeln. Die anderen essen schweigend die weißen Körner mit Soße aus ihren Schalen.
Ryko ist mein einziger Freund hier, auch wenn wir den anderen nicht feindlich gegenüberstehen. Ich habe einige Missionen mit Gashimi oder Jadeska absolviert. Trotzdem sehen sie nicht mal auf, als ich mich setze. Wir alle wissen, dass wir jederzeit sterben können. Freundschaften zu schmieden, macht einen verletzlich. Vertrauen kann tödlich sein. Besser, der Tod der anderen ist einem egal.
Die mangelnde Resonanz scheint Ryko nicht zu stören. Er legt den Kopf in den Nacken und kippt das Wasser aus seinem Tonbecher herunter. »Was glaubst du sind die nächsten Prüfungen?« Schnell leckt er sich über die Lippen. Dann hebt er die Schale mit dem dampfenden Reis zum Mund und schiebt sich mit den Stäbchen einen großen Brocken hinein.
Ich kriege keinen Bissen herunter. »Keine Ahnung. Aber nach der Versammlung heute Nachmittag wissen wir sicher mehr.«


Teno

Funken fliegen, als Stahl auf Stahl trifft. Mein Katana gleitet ruckartig über die Klinge des Kampfmessers, mit dem mein Gegner mich soeben anzugreifen versucht hat. Auf diese Art zu parieren, wird mein Langschwert stumpf machen. Selbst katonischer Stahl, benannt nach dem alten Gott des Lebens und des Feuers, ist nicht hart genug, um diese Tortur zu überstehen und ich hasse alles daran – aber so sind die Regeln von Arcarys. Ich stampfe fest mit dem Fuß auf die Tatami-Matte am Boden des Trainingsraums und rufe meinem Gegner die Worte ins Gesicht, die von mir erwartet werden. »Vashimos ayr aero!«
Ikaro kontert mit einem angedeuteten Schlag seines Katanas auf Höhe meines Kopfs. Ich ducke mich, wirble herum und treffe ihn mit dem gestreckten Bein am Knöchel. Sein linkes Knie ist sein Schwachpunkt, gestern hat er sich beim Training verletzt. Ikaro macht einen Radschlag, auf die Griffe seines Langschwerts und des Tantos gestützt, und entzieht sich so dem Fall. Unter seinen Händen rascheln die Reisstrohmatten.
Warum Arcarys, der traditionale Kampftanz, Teil unserer Ausbildung ist, habe ich nie verstanden. Er tötet niemanden, sondern schult lediglich die Beweglichkeit und Reaktionsfähigkeit. Nichts, was eine ordentliche Übungseinheit mit Schlagstöcken nicht ebenfalls bezwecken würde.
Wir wirbeln umeinander. Es ist mehr ein Spiel als ein Kampf. Schlag, Gegenschlag, Aktion, Gegenaktion. Tanto, Katana, Katana, Tanto. Waffe auf Waffe. Stahl auf Stahl.
Wie immer komme ich mir lächerlich vor, die seltsamen Worte bei jeder Bewegungsabfolge in den leeren Raum zu brüllen. Doch Meister Kayoshis Schultern sind straff zurückgezogen. Er steht vor einer der dunkelblauen Holzsäulen, die braunen Augen leicht zusammengekniffen. Wie eine Schlange verfolgt er jede unserer Bewegungen. Selbst das weite Wickelhemd seines Bando, des traditionellen Kampfanzugs, täuscht nicht über den stählernen Körper hinweg, der darunter liegt.
Wenn das die erste Prüfung des Abschlussjahres sein soll, bitte. Dann werde ich die Technik eben so perfekt wie nur möglich ausführen. Nicht mal ein Tropfen Schweiß steht auf meiner Stirn. Trotzdem ärgere ich mich. Ich werde das Katana ewig mit dem Schleifstein bearbeiten müssen, damit die Kante wieder scharf wird.
»Yashi.« Meister Kayoshis Stimme schneidet durch die Luft wie katonischer Stahl, und auf einmal ist das hier kein Witz mehr. Mein Herz macht einen Satz. Jetzt geht es um Leben und Tod. Das also ist die Prüfung, nicht der lächerliche Arcarys.
Für den Bruchteil eines Augenblicks weiten sich Ikaros Augen, da hole ich bereits mit dem Langschwert aus. Dieses Mal ohne Worte. Er schlägt die Klinge weg. Nicht so mühelos wie eben, aber entschlossen. Wir beide haben im Haus des Mondes und der Stille zu lange um unser Überleben - um unsere Ehre – gekämpft, um einfach so aufzugeben.
Ikaro dreht sich aus der Attacke und schwingt seine Waffe in meine Richtung. Ich mache eine Ausfallschritt und stecke mein Tanto zurück in die Scheide an meinem Gürtel. Das Katana hat die bessere Reichweite.
Ich bewege mich schnell, effizient, schlage von oben und ziehe die Waffe zu mir. Wieder und wieder. Ikaro pariert, seine Aufmerksamkeit auf den gefalteten Stahl gerichtet. Er sieht meinen Fuß nicht kommen. Erst als sein linkes Knie hässlich knackt, weiten sich seine Augen.
Ich hole sofort aus, treffe Ikaros Hals und ziehe. Durch das Heft der Waffe spüre ich, wie die Schneide Fleisch, Sehnen, Muskeln und schließlich Knochen durchtrennt. Sein Kopf fliegt von seinen Schultern. Mit einem dumpfen Aufprall kommt er auf der Reismatte auf. Es riecht nach Eisen, und Blut sprudelt gluckernd aus dem Halsstumpf, während sein Köper zu Boden sackt.
Ich wische die Klinge am weiten Ärmel meines Bando ab und stecke es in die Scheide. Meinen gefallenen Kameraden würdige ich keines Blickes mehr. Er tut mir beinahe leid. So weit ist er gekommen, so viele tödliche Missionen hat er überstanden, und jetzt stirbt er wegen einer Knieverletzung. Aber er wusste, worauf er sich einließ, als er sich für das Haus des Mondes und der Schatten entschied.
Genau wie ich.
Meister Kayoshi nickt. Sein Gesicht ist das Bildnis der Westlichen See, spiegelglatt an einem wind- und wolkenlosen Tag. »Teno, du wirst zum dritten Gongschlag im Innenhof erwartet. Die nächste Prüfung steht bevor.«
Ich balle die Hände zu Fäusten, überkreuze sie auf der Brust und verneige mich tief. »Danke, Meister.«
Das leise Gurgeln des Bluts, das in die Ritzen zwischen den Reismatten fließt, ist mein einziger Begleiter als ich den Trainingsraum verlasse. Ich habe eine Klinge zu schärfen.

Mit meinen schweren Kampfstiefeln an den Füßen stapfe ich nach dem dritten Gongklang über den gepflasterten Boden des Innenhofs. Links neben mir zwitschert ein Paradiesvogel mit gelbem Kopf – eine Blaubauchelster. Sie hat sich auf einer der hölzernen Trainingspuppen niedergelassen und beäugt mich aufmerksam.
Meister Kayoshi räuspert sich, ein Geräusch, das nicht lauter ist als das Wispern des Windes in den Blättern. Trotzdem liegen sofort alle Blicke auf ihm. Im Kopf gehe ich die Viererreihen durch, in denen wir dastehen. Wir sind achtzehn, zwei weniger als heute Morgen. Viele der anderen Männer haben Schwellungen im Gesicht oder Blutergüsse an den Oberarmen. Ich hatte Glück mit Ikaro, so einfach hätte sich hier sonst niemand töten lassen.
Meister Kayoshi mustert uns streng. »Die erste Prüfung lief wenig erfreulich, es haben zu viele überlebt. Meisterin Amoya führt dies auf euer hervorragendes Training zurück.« Die drahtige Frau hinter ihm nickt leicht. Ihr Bando ist aus Baumwolle und von silbrigen Seidenfäden durchwirkt. Es verleiht ihr ein erhabenes Aussehen. Nicht, dass es einen Unterschied machen würde. Diese Frau ist genauso niederträchtig wie wir und würde jeden töten, der sich ihr in den Weg stellt. Meister Kayoshi erhebt die Stimme. »Ich hingegen deute das als Zeichen eurer Schwäche. Für die nächste Prüfung geht es ins Haus des Flüsterns und der Schatten. Und was auch immer euch dort erwartet: Ich will eine bessere Leistung sehen. Von jedem von euch. Ihr wisst, was auf dem Spiel steht.«
Ich schlucke und hebe leicht den Kopf, halte die Hände hinter dem Rücken, genau wie die anderen. Jeder hier weiß, worum es geht. Die Abfindung, die man bekommt, wenn man zehn Jahre im Dienst des Gottkaisers gestanden hat, ist ein Witz. Zumindest im Vergleich zu dem, wonach die meisten hier aus sind. Dem Titel ihres Vaters, der nur unter diesen Umständen an Bastardsöhne verliehen wird. Dafür sind die Männer neben mir bereit zu sterben. Genau wie ich.
»Geordneter Abzug. Sofort.« Meister Kayoshis Stimme reißt mich aus meinen Gedanken. Er stößt einen der dunkelblau lackierten Torflügel auf, hinter denen die von außen in die Felsnadel geschlagenen Stufen beginnen. Das erste Mal, als ich die von Wildpflanzen überwucherten Steintreppen hochgestiegen bin, musste ich mehrere Pausen einlegen. Die Höhe war schwindelerregend, mein Herz schmerzte vor Heimweh, und die Geräusche des Dschungels unter mir machten mir Angst. Heute sind sie mir so vertraut wie die Innenseite meiner Hand.
Niemand spricht, während wir abwärtssteigen und schließlich auf den Pfad treffen, der zwischen den Lianen und Bäumen zur nächsten Felsnadel führt. Obwohl wir viele sind, gleiten wir so lautlos durch den Wald, dass sich die grüne Buschotter auf dem Trampelpfad vor uns erst dann eilig in die Farne schlägt, als wir um die Kurve kommen.
Niemand schert sich um das hochgiftige Reptil, wir schleichen weiter angespannt zwischen den Urwaldriesen hindurch. Ich mustere das Spiel von Bamos Nackenmuskeln, der vor mir durch die Schatten des Waldes streift. Seine schwarzen Haare sind so lang, dass sie bei jeder Bewegung seinen Hals berühren.
Ich erinnere mich an jede einzelne Abschlussprüfung, die stattgefunden hat, seit ich hier bin. Bis jetzt ist es noch nie vorgekommen, dass sie mit den anderen Häusern gemeinsam absolviert werden sollten. Gerade die Rekruten aus dem Haus der Sonne und des Feuers würde ich nur zu gern meiden – die einzigen, die wirklich eine Konkurrenz für uns darstellen.
Mit dem Handrücken wische ich mir den Schweiß von der Stirn und schleiche weiter. Überhaupt ist es ungewöhnlich, dass die erste – und offensichtlich auch die zweite Prüfung – hier stattfinden. Es gab Rekruten, die wurden an der Mauer zu Akúgo ausgesetzt und mussten im verfeindeten Land Informationen einholen. Andere haben in weit im Süden gelegenen Städten Aufträge erfüllt. Wiederum andere haben Piraten bekämpft. Noch nie ist ein Jahrgang hiergeblieben, in den Häusern, in denen wir trainiert wurden - fernab der nächsten Stadt.
Ich zupfe meinen Ärmel zurecht. Es spielt keine Rolle. Ich werde diese Aufgaben bestehen, so oder so, und mir das nehmen, was mir zusteht. Mir meinen Palast, mein Zuhause, aus den Klauen meiner Stiefmutter zurückholen. Sie für all die Jahre der Demütigung leiden lassen. Ich lege den Kopf in den Nacken, als die Steilwand der Felsnadel in Sichtweite kommt, auf der das Haus des Flüsterns und der Schatten thront.
Auch hier kriechen Wildpflanzen aus den feinen Rissen, und die in den Stein geschlagenen Treppenstufen sind teilweise abgebrochen. Wir schaffen den Aufstieg schnell und ohne nennenswerte Anstrengung.
Neugierig schaue ich mich um und mustere systematisch meine Umgebung. Das Haus des Flüsterns und der Schatten ist ähnlich aufgebaut wie das des Mondes und der Stille.
Vier Gebäude bilden ein Karree um einen gepflasterten Innenhof, die gemauerte Zisterne steht in der hinteren linken Ecke. Auf dem geschwungenen Dach mit seinen hölzernen Giebelverzierungen eines der Häuser sitzt ein Aufbau, der an einen Turm erinnert. Darüber befindet sich ein zweiter, in dem eine Glocke hängt, wie sie bei Beerdigungen geläutet wird. Ich wende meinen Blick erst ab, als wir so weit vortreten, dass ich sie nicht mehr sehen kann, ohne den Kopf in den Nacken zu legen.
Die Kampfstiefel der Rekruten hinter mir hallen im Innenhof wider, während ich die in den Felsen geschlagene Treppe emporsteige, die zu einem der Gebäudetore hinaufführt.
Splitter weißer Farbe haften an den Ornamenten und Rahmen, die ebenfalls schon bessere Zeiten gesehen haben. Ich verenge die Augen, als Schatten des geschwungenen Vordachs auf mein Gesicht fallen, dann betrete ich das Haus. Wie auch bei uns, biegen wir links ab in einen großen Trainingssaal.
Auf der anderen Seite vor der holzvertäfelten Wand stehen fünfzehn Rekruten, die Beine hüftbreit, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und den Blick starr geradeaus gerichtet. Ich zögere, und prompt rennt mir Masiyami in den Rücken.
Unter den Rekruten sind zwei Frauen. Ungewöhnlich. Körperlich sind sie uns unterlegen, aber man munkelt, dass der Gottkaiser für spezielle Missionen in jedem Jahrgang mindestens eine einsetzt. Mir soll es recht sein, solange ich nicht auf sie angewiesen bin.
Ich mustere die anderen und versuche, irgendetwas über sie herauszufinden. Doch ihre makellose Haltung und ihre regungslosen Mienen verraten nichts. Ohne dazu aufgefordert worden zu sein, nehmen wir Aufstellung und spiegeln ihre Formation. Ich zähle die mit Papier bespannten Fenster an der Wand gegenüber. Acht Stück sind es. Dahinter müsste es steil in die Tiefe gehen, direkt in den Fluss. Eine gute Möglichkeit, jemanden zu beseitigen. Das merke ich mir für später. Alles in deiner Umgebung kann eine Waffe sein. Du musst nur wissen, wie man sie einsetzt.
Ich suche weiter den Raum ab. Ein eiserner Behälter in der Ecke, dessen Griffe zwei Drachen bilden, fällt mir ins Auge. Einige Reisstrohmatten stehen eingerollt darin, und ich frage mich, wozu sie sie benötigen. Der Saal ist bereits vollständig damit ausgelegt. Sind es Ersatzmatten? Das wäre nicht unüblich. Wenn zu viel Blut vergossen wird, werden sie ausgetauscht.
Bevor einer der vier Meister - zwei von uns und zwei von hier – das Wort ergreift, mustere ich ein letztes Mal die anderen, und da trifft er mich. Ihr Blick.
Sie ist die Kleinste unter allen Rekruten. Ihr Gesicht ist hübsch, herzförmig, die Lippen rosig, wenn auch fest aufeinandergepresst. Selbst ihr Bando kann nicht verbergen, dass sich unter den Schichten aus Baumwolle ein gestählter Körper befindet.
Kaum merklich dreht sie den Kopf und sieht mich aus leicht zusammengekniffenen Augen an. Fast schwarz sind sie, wie die einer Dämonin. Sie taxiert mich, und für einen kurzen Moment habe ich das Gefühl, wir seien allein im Raum. Ich zwinkere ihr zu, woraufhin sie die Hände zu Fäusten ballt – ich sehe es daran, wie sich ihre Unterarme anspannen. Langsam und kontrolliert streckt sie die Finger wieder und verschränkt sie erneut hinter dem Rücken. Tödliche Präzision und Selbstbeherrschung gehen von ihr aus wie wabernde Schatten.
Ich hätte nichts gegen eine schnelle Nummer nach … was auch immer das hier wird. Mein letztes Mal mit einer Frau hatte ich bei einem Auftrag in der Dschungelstadt Wanabe. Es ist zu lange her und war mit zu viel Verpflichtung verbunden, als dass ich den Sex wirklich genießen konnte. Die leichten Zuckungen in ihrem sonst so kontrollierten Gesicht verraten mir, dass da etwas ist. Interessant. Aber letzten Endes irrelevant. Sie wird die Prüfungen nicht überleben, sie ist zu schwach.
Meister Kayoshi stellt sich ans Kopfende der Halle neben eine Frau mit grauen Haaren. Die Ärmel ihres Bandos sind weiß abgesetzt. Eine Großmeisterin also. Mein Blick gleitet an ihr vorbei. Den bronzefarbenen Gong hinter ihr kenne ich aus dem Haus des Mondes und der Stille. Auf einem niedrigen Tisch davor steht eine Sanduhr, daneben eine Schüssel aus weißlasiertem Ton. Es geht also um Zeit. Die Frage ist nur, wofür wir sie haben.
Die alte Frau tritt mit dem Selbstbewusstsein einer Kriegerin vor, von deren Hand Hunderte Männer den Tod gefunden haben. »Das hier ist nicht eure zweite Prüfung, lediglich die Vorbereitung darauf.« Die Spannung in der Luft knistert.
»Ihr werdet in Paaren zusammengestellt. Dann bekommt ihr euren Auftrag.«
Meister Kayoshi schreitet mit gemessenen, bambusgeraden Schritten auf den Tisch zu und nimmt eine Schüssel, die er der Frau präsentiert. Mit ihren von Altersflecken übersäten Fingern greift sie hinein und holt einen Zettel heraus.
»Bamo!«, ruft Meister Kayoshi meinen Nachbarn auf.
Er tritt mit einem exakten Schritt aus der Reihe, die Fäuste vor der Brust überkreuzt. Jede Bewegung ist so akkurat und präzise wie die Striche der Schriftzeichen auf den Tempeln des Gottkaisers. »Hier.«
»Dein Partner ist Ryko«, liest die Alte von dem Papierstreifen in ihrer Hand ab. Ein gutaussehender Mann, der neben der Frau mit dem dunklen Blick gestanden hat, schlendert nach vorn. In seinen Augen und Mundwinkeln blitzt der Schalk. Er zwinkert Bamo zu, dessen Armmuskulatur für einen Augenblick zuckt. Sie stellen sich Seite an Seite ans Kopfende der Halle.
»Teno!« Meister Kayoshi hebt den Kopf.
Ich trete ebenfalls vor, überkreuze die Arme vor der Brust und warte. Die Großmeisterin wühlt in dem Gewirr aus Zetteln in der Schüssel. Es sind noch vierzehn Rekruten übrig. Ich hoffe auf den breitschultrigen Kerl am Ende der Reihe mit der Narbe über der Wange. Kräftig, muskulös. Für was auch immer wäre er ein guter Partner. Oder den Typen mit den im Nacken zusammengefassten Haaren vier Männer weiter. Er ist drahtiger, aber mit Sicherheit schnell.
»Deine Partnerin ist Saya.«
Mir wird eiskalt. Und dann tritt sie aus der Reihe. Sie mustert mich, als würde sie mich am liebsten auf der Stelle umbringen. Glückwunsch, das beruht auf Gegenseitigkeit. Schwäche ist nichts, was ich mir erlauben kann. Nicht mir selbst und erst recht nicht meiner Partnerin. Ich öffne den Mund, schließe ihn jedoch gleich darauf. Widersprechen bringt nichts. Mit einem tiefen Atemzug schreite ich auf sie zu und nicke, bevor wir neben Bando und Ryko Aufstellung beziehen. Das kann ja heiter werden.



Saya

Meine Wut pulsiert mit jedem Herzschlag. Er ist hier. Neben mir. Der erste Name auf meiner Todesliste. Fleischgeworden in diesem verdammten Bastard, diesem Hurensohn, diesem …
Es gibt keine Worte für das, was er ist. Mittlerweile trägt er die Haare kürzer. Eine kluge Entscheidung, da ich sie ihm so schwerer einzeln ausrupfen kann. Doch seine blauen Augen, hell und strahlend wie der Himmel, hätte ich überall wiedererkannt. Seit ich sieben Jahre alt bin verfolgen sie mich in meinen Albträumen. Teno, der Bastardsohn aus Haus Kotara. Der Mann – der Junge von damals – der mir alles genommen hat.
Ich stemme die Fußsohlen fest auf die Matten unter meinen Lederschläppchen. Fast so, als könnten sie den Zorn ableiten, der in meinen Adern pocht. Können sie aber nicht. Meine Nasenflügel beben, und sein Geruch steigt mir in die Nase. Der Geruch von Zitrusfrüchten. Es lässt meinen Hass nur höher lodern.
Meisterin Lashina ruft weitere Paare auf, die sich neben uns stellen. Teno hat die linke Oberlippe leicht hochgezogen, als wäre er angewidert.
Ich will ihm den Mund aus seinem Gesicht schneiden. Meine linke Hand legt sich wie von selbst um den Griff meines Tantos. Langsam verlagere ich das Gewicht, bis mein Baumwollhemd beinahe seinen nackten Oberarm streift.
»Erinnerst du dich an mich?«, zische ich.
Er sieht unauffällig zu mir herunter, zieht eine Braue hoch, verächtlich. Natürlich. Schließlich ist er aus gutem Hause und ich nur ein Kind aus der Gosse. »Sollte ich?«
»Das solltest du. Spätestens, wenn der Befehl zum Yashi kommt. Ich werde dir die Namen meiner Eltern in dein arrogantes Gesicht schnitzen. Asha und Gamashi Sento, erinnerst du dich?«
Der Gong ertönt, und ich richte meine Aufmerksamkeit wieder auf Meisterin Lashina. Sie verschränkt unter den weiten Ärmeln ihres Bando die Hände. »Je zwei Schüler aus den beiden Häusern werden gegeneinander antreten.« Sie mustert die schweren Lederstiefel der Männer aus dem Haus des Mondes und der Stille. »Ohne Schuhe. Die drei übrigen Rekruten, für die es keinen Partner gibt, werden nach dem ersten Durchgang zugeteilt.«
Ein Raunen flirrt durch die in Reih und Glied aufgestellten Rekruten. Nur ein Blick der Meisterin genügt, und sie verstummen. Schnell knien sich die Männer hin und öffnen die Schnürung an ihren Stiefeln.
Teno sieht mich mit leicht gekräuselten Brauen an. Da ist eine minimale Regung in seinem Gesicht. Doch ich bin eine Assassine, mir entgeht nichts. Schließlich dreht er sich weg und geht ebenfalls in die Hocke, um seine Schuhe auszuziehen. Dabei bietet er mir seinen Nacken dar. Es wäre ein Leichtes, ihm mein Kampfmesser neben der Wirbelsäule in den Hals zu jagen. Nach weniger als drei Herzschlägen wäre er verblutet. Meine Finger jucken und zucken in Richtung des Hefts meiner Waffe.
Doch töte ich ihn ohne ein Yashi, ist mein Leben ebenfalls verwirkt. Und dann kann ich keine Rache an all den anderen Namen auf meiner Liste nehmen. Ich presse die Lippen zusammen und bleibe reglos stehen, den Blick starr geradeaus gerichtet. Seine Zeit ist noch nicht gekommen. Aber was nicht ist …
»Saya?«
Ich zucke zusammen, als Meisterin Lashina meinen Namen ruft. Unwillkürlich ziehe ich die Schulterblätter zurück, überkreuze die Arme vor der Brust und senke das Kinn. »Ja, Meisterin?«
»Schuhe aus. Das gilt auch für dich.« Sie nickt in Richtung meiner dünnen Lederschlappen. Neben mir stopft Teno seine Socken in die Stiefel und sieht mich über seine breite Schulter hinweg an. Ich werfe einen giftigen Blick zurück.
»Jetzt, Saya.« Zwei Worte wie zwei Klingenstiche.
Mir wird eiskalt. Auf den Reisstrohmatten muss man entweder barfuß kämpfen oder in Schuhen, sonst ist es zu rutschig. Wenn wir denn kämpfen – wovon ich mal ausgehe.
Meine Socken kann ich auf keinen Fall ausziehen, zumindest nicht den linken. Wenn auch nur eine Person das Sternenmal an meinem Fuß entdeckt, bin ich geliefert. Nein, die linke Socke bleibt an. Und es sähe verdächtig aus, wenn ich nur eine tragen würde, oder?
Ich knirsche mit den Zähnen und gehe langsam in die Knie.
»Was versteckst du, Gossengöre?« Teno mustert mich von der Seite. Also erinnert er sich doch.
»Halt die Klappe oder ich stopfe sie dir«, knurre ich und schlüpfe aus meinen Schlappen. Gemeinsam richten wir uns wieder auf.
»Ich weiß wieder, wer du bist.«
»Soll ich mich jetzt geehrt fühlen, oder erinnerst du dich vielleicht auch an all die Kinder, deren Leben du und dein Vater zerstört haben?«
»Ruhe!«
Wir zucken beide zusammen.
»Sieht aus, als hätten wir zwei Freiwillige. Teno, Saya, ihr beginnt. Alle anderen verlassen den Raum.«
Grandios. Den Anfang zu machen, ist immer schlecht. So habe ich keine Chance, im Vorhinein zu erfahren, was die Aufgabe umfasst. Das leise Patschen von nackten Füßen auf Tatami-Matten geht über in Haut auf kaltem Stein. Mit einem Knirschen gleitet die Schiebetür hinter Teno und mir zu. Wir sind allein. Nur er, ich und die vier Meister. Das ist gar nicht gut.
Meisterin Lashina nickt. »Wir beginnen mit einem einfachen Kampf. Keine Waffen. Tritte, Hiebe, Bisse, alles erlaubt. Sieger ist, wer seinen Gegner bis zum Durchlaufen der Sanduhr auf dem Boden hat. Dieser Person wird für die nächste Prüfung ein Vorsprung gewährt.«
Fast unmerklich bohre ich meine Zehen zwischen zwei Matten. Teno hat den Vorteil. Er ist stärker und hat die größere Reichweite. Meinen einzigen Trumpf – meine Geschwindigkeit – werde ich mit den Socken nicht ausnutzen können. Trotzdem gebe ich nicht auf. Natürlich nicht. Hier geht es nicht um einen möglichen Vorsprung für die nächste Prüfung. Hier geht es darum, Rache an dem Mann zu nehmen, der als Junge meine Zieheltern verraten hat und dessen Vater sie daraufhin hingerichtet hat.
Mit ruhigen Fingern löse ich den Gürtel des Katanas von meinen Hüften. Es ist mir nur im Weg. Das Kampfmesser hingegen bleibt fest gegen meinen linken Hüftknochen gepresst. Besser, ich bin vorbereitet. Aus dem Augenwinkel registriere ich eine Bewegung, sehe Tenos Langschwert aufblitzen, das er sorgsam an die Wand lehnt.
Ich bin schneller als er, hebe den Kopf leicht und gleite auf den Außenseiten meiner Fußkanten lautlos in die Mitte des Saals. Mit dem Rücken zu den Fenstern halte ich inne. Es verschafft ihm einen minimalen Nachteil gegen das Licht anblinzeln zu müssen. Nicht viel, aber ich nehme, was ich kriegen kann.
Tenos Schritte lassen den Boden vibrieren, so leise sie auch sind. Er starrt zu mir herunter, ein arrogantes Zucken umspielt seine Mundwinkel. »Ich werde dich zerquetschen.« Sein Blick flackert zu den Fenstern in meinem Rücken und verweilt einen Herzschlag zu lang dort, als dass es Zufall sein könnte. »Es gibt zwar kein Yashi, aber Unfälle passieren immer wieder.«
Ich hebe meine angespannten Hände und bringe sie vor meinen Körper in Kampfhaltung. »Das werden wir ja sehen, Bastard.« Seine Lippen formen eine dünne Linie. Eine Beleidigung, die ihn mehr getroffen hat als meine anderen Worte. Weil sie der Wahrheit entspricht. Das muss ich mir merken.
Der tiefe, schwingende Ton des Gongs bringt meine Knochen zum Beben. Keinen Wimpernschlag später schnellt Tenos Hand in einem präzisen Stoß nach vorne. Ich tauche unter seinem Arm hindurch und verpasse ihm mit dem Handballen einen gezielten Hieb auf den Solarplexus. Dafür trifft mich sein Ellenbogen hart an der Schulter. Der Schmerz pocht dumpf, doch die Jahre des Trainings haben mich abgehärtet.
Ich gehe blitzschnell in die Hocke und versuchte ihm mit einem ausgestreckten Beinschwinger zu Fall zu bringen, aber er ist zu groß, zu stark. Mein Schienbein prallt an seine Wade, und er strauchelt nicht einmal. Stattdessen reißt er sein Knie hoch und zielt auf meine Nase. Ich werfe mich nach hinten, um auszuweichen, und springe sofort wieder auf die Füße.
Tenos blaue Augen funkeln. »Suchst du schon das Weite, Gossenratte?« Er macht eine lockende Bewegung mit seiner Hand.
Ich bin nicht so naiv, ihn frontal anzugreifen. Stattdessen umrunden wir uns wie zwei hungrige Wölfe, die Hände auf Brusthöhe erhoben und jeden Fuß so präzise gesetzt wie ein Nadelstich.
»Wenn du nicht willst, dann muss …« Er schnellt nach vorn, bevor er den Satz beendet hat, was klüger ist, als ich zugeben will. Seine starke, große Hand greift nach meiner. Ich schlage sie weg, doch seine andere erwischt mich an der Seite, und ich kann nicht mehr blocken. Finger krallen sich in meine Haare. Er zieht an ihnen, bis mein Kopf im Nacken liegt und meine Wirbel knacken.
»Das ging leichter als gedacht.« Mit jedem Wort drängt er mich ein Stück weiter rückwärts. Die Socken sind zu glatt, und meine Füße schlittern ohne nennenswerten Widerstand über den Boden. Ich haue auf ihn ein, verpasse ihm mit meiner Handkante einen Hieb auf den Kiefer, einen weiteren aufs Ohr. Dieser Schlag soll in der Theorie Schwindel auslösen, Teno zuckt nicht mal. Stattdessen fängt er meinen rechten Unterarm ab und presst ihn mir an die Seite.
Ich reiße das Knie hoch, um ihn zu treten - als mein Rücken mit der hölzernen Verstrebung des Fensters kollidiert. Mein Fuß sitzt zwischen seinen Beinen. Wenn ich jetzt zutrete, katapultiere ich mich selbst hinaus. Gemessen an Tenos breitem Grinsen weiß er das so gut wie ich.
Ich trete trotzdem zu.
Er lässt von mir ab, schubst mich nach hinten. Das Geräusch von splitterndem Holz und reißendem Papier erfüllt die Luft. Schlagartig strecke ich meinen linken Arm aus, der gegen den Fensterrahmen und an die vertäfelte Wand knallt. Ein scharfer Schmerz zuckt durch mein Handgelenk. Gerade rechtzeitig schaffe ich es, den rechten Arm ebenfalls hochzureißen und ihn an der anderen Seite des Rahmens gegen das Holz zu stemmen.
Meinen Fuß setze ich seitlich auf Tenos rechte Hüftbeuge, drücke mich seitlich weg und rolle mich neben ihm auf den Boden ab. Mit einem Stöhnen komme ich auf den Reißstrohmatten auf, mache eine Rolle über meine Schulter nach vorn und lande auf den Füßen. Das war riskant, aber effektiv. Adrenalin pumpt durch meine Adern, macht mich wach und aufmerksam, etwas, das ich mir zunutze machen werde. Ich wirble herum, die Hände erhoben.
Wut flackert in Tenos Gesicht auf, und er stürmt auf mich zu. Doch statt auszuweichen, renne ich ihm entgegen, woraufhin er erstaunt die Augen aufreißt. Im letzten Moment springe ich ab. Noch im Flug halte ich mich an seiner Schulter fest, schlinge ihm einen Arm um den Hals und ziehe mich an seinen Rücken.
Ich bohre ihm die Knie rechts und links von der Wirbelsäule in die Haut. Er stolpert verdattert – das ist er von seinen schweren Gegnern wohl nicht gewohnt. Ehe er reagieren kann, klemme ich die Hand, die um seinen Hals liegt in meinem linken Ellenbogen ein und drücke zu. Mal sehen, wie der Arsch ohne Luft klarkommt.
Unter mir spannen sich seine Muskeln in einem filigranen Spiel an. Das wird ihm nicht helfen. Er weiß es, und ich weiß es. Ihm bleiben wenige Augenblicke, bevor er wegen Sauerstoffmangels in die Knie geht. Teno greift mit den Händen über den Kopf, versucht, mich zu fassen. Doch mit seiner muskulösen Statur ist er weit weniger beweglich als ich. Pech gehabt, Arschloch.
Als sich seine Finger in meine Haare wühlen und fest daran ziehen, beiße ich ihm mit aller Kraft in die andere Hand. Teno schreit auf, aber es ist nur ein gurgelndes Geräusch. Sein Körper zuckt unter mir wie ein wildes Tier. Ich drücke den Schwitzkasten weiter zu und spähe über die Schulter. Die Sanduhr ist halb durchgelaufen. Wenn Teno jetzt ohnmächtig wird, kann ich das hier gewinnen.
Ich spüre des Kribbelns des Falls, bevor mein Gleichgewichtssinn anspringt. Die Matte nähert sich schneller, als mir lieb ist, und der heftige Aufprall presst mir die Luft aus den Lungen. Dazu kommt Tenos Dickschädel, der sich in meinen Brustkorb und meine Magengrube bohrt. Sein Gesicht ist gerötet, trotzdem drückt er sich mit der Kraft eines Wasserbüffels auf mich. Er rammt die Füße fest in den Boden, zerquetscht mich fast mit seinem Gewicht und seiner gewaltigen Stärke.
Ich lasse nur einen Moment locker. Einen winzig kleinen Moment. Doch es reicht. Er rollt uns zweimal herum, bis sein Körper meinen auf dem Boden pinnt. Blitzschnell greift er nach meinen Handgelenken und presst sie über meinem Kopf auf die Matte. Es ist, als ob er mein Arys, meine Lebensenergie, anzapft und aussaugt, so viel Kraft kostet es mich, gegen ihn anzukämpfen.
»Tja, jetzt hast du keine so große Klappe mehr, was Gossenratte?« Sein Atem streicht keuchend über meine Wange, und wieder weht mir der Geruch von Zitrus entgegen. »Schade, dass kein Yashi gilt. Ich würde dir liebend gern die Kehle aufschlitzen, wie mein Vater es bei deinen Eltern getan hat.« Seine weißen, geraden Zähne blitzen auf wie die Reißzähne eines Panthers.
Der Hass frisst mich von innen auf. Jeder meiner Muskeln ist energetisiert, stemmt sich versuchsweise gegen das Gewicht seines großen Körpers auf mir. Er spannt sich noch mehr an, drückt mich so fest auf die Reisstrohmatte, dass es schmerzt.
Dieser verdammte Bastard. Ich blinzle zur Sanduhr, vielleicht noch zwanzig Herzschläge, bevor der Kampf vorbei ist. Ich muss ihn irgendwie überrumpeln, aber er ist mir kräftemäßig überlegen.
Plötzlich wabert der tiefe Ton des Gongs wie Wellen durch meinen Körper. Ich verdrehe die Augen und sehe, wie Meisterin Lashina sich auf ihren Stock stützt, den Blick auf uns gerichtet. Dann sagt sie ein Wort. Nur ein einziges.
»Yashi.«

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