
Leseprobe Dragon Games - Flügel aus Stahl
Prolog
An einem normalen Tag würde ich jetzt vor Langweile sterben. Ich würde nach der Vorlesestunde im Waisenhaus in James’ Herrenhaus sitzen und auf die Straße starren. Oder mir eines der Bücher aus der Bibliothek holen, das ich dann doch nicht las. Fliegen war unter normalen Umständen auch keine Option. Der eiserne Rat hatte es mir untersagt, denn das erinnerte die Bevölkerung zu sehr daran, dass es eine Frau da draußen gab, die einen Drachen ritt. Ein Risiko, wie sie sagten. Also saß ich normalerweise den ganzen Tag drinnen und tat nichts. Zumindest nichts Sinnvolles.
Doch heute war kein normaler Tag.
Ich stand an die dicke Eisentür des Drachenstalls gepresst und musterte im schummrigen Licht Daireann. Mein Herz pochte wie wild und feine Schweißperlen hatten sich trotz der kühleren Herbstluft auf meiner Stirn gebildet. Irgendwas stimmte ganz und gar nicht. Immer wieder liefen kleine Schauer über den geschuppten Drachenleib und sie hatte mich beim Eintreten nicht mal angesehen. Dabei war ich hier reingeplatzt wie ein Wirbelsturm. Ärgerlich pulsierte ihr Schmerz durch unsere Verbindung, aber ich erkannte keine Wunde. Es war so schlimm, dass ich ihn bis ins Waisenhaus gespürt hatte.
»Daireann?« Ich trat einen Schritt auf sie zu, doch Onyx grollte und fletschte die Zähne. Abwehrend hob ich die Hände. »Ist ja schon gut. Ich habe verstanden.«
Eilig trat ich zur Seite. Trotzdem versperrten mir die Backsteinmauer des Stalls und Onyx die Sicht. Noch immer keuchte ich von dem schnellen Ritt hier her, meine weiße Bluse klebte schweißnass an meinem Rücken. Meinen Mantel hatte ich einfach im Pferdestall liegenlassen.
»Daireann, bitte! Was ist los?« Ich wollte ihr helfen. Was, wenn sie krank war? Oder meine Hilfe brauchte? Aber sie sah mich nicht mal an. Ich hätte gleich misstrauisch werden sollen, als sie bei unseren heimlichen, nächtlichen Ausflügen vom See Steine mitgenommen hatte. Das hatte sie noch nie getan. Bestimmt bekam ihr die schlechte Luft in Dimondon nicht. Oder der Stall mit Onyx war zu winzig oder -
Mit einem kläglichen Schrei riss mich Daireann aus meiner Gedankenspirale. Stroh vom Boden wirbelte auf und fegte in kleinen Windhosen an die Stalltüren. Was war los? Ich schloss die Augen und tastete mental nach unserer Verbindung. Es war nicht schwer. Rot pulsierend sprang sie mich an und riss an meinen Nervenenden.
Daireanns Aufregung und ein scharfer Schmerz durchzuckte mich. Ich stöhnte und krallte mich in einer Rille an der Backsteinmauer fest. Fast sank ich auf die Knie. So intensiv hatte ich das nie erlebt. Ich konnte sie nicht verlieren! Daireann war alles, was ich von meinem alten Leben noch hatte. Sie war mehr als ein Drache – sie war meine Freundin.
Daireann und ich schrien gleichzeitig auf, als der Schmerz erneut in einer Welle kam. Es reichte. Ich musste etwas tun. Irgendwas. Mein Drache brauchte Hilfe.
Ich keuchte und riss die Lider auf. »Kannst du James holen?« Ich sah Onyx an, doch der verengte die goldenen Augen zu Schlitzen. Mit einer Tatze hob er aus und stampfte auf den Boden. Die Pflastersteine unter ihm erzitterten. Das war wohl ein Nein.
»Bitte, Onyx!«
Der große, schwarze Drache drehte sich nur abrupt um und fegte mich beinahe mit seinem Schwanz um. Immerhin schnaubte er Daireann an, aber er berührte sie nicht. Egal, mir reichte es. Sollte Onyx mich doch abfackeln. Ich wich seinem peitschendem Schwanz aus und schob mich über das verteilte Stroh an der Wand entlang. Daireann hatte sich in der anderen Wand des Stalls zu einem Knäuel zusammengerollt, Hinterteil und Kopf in die Ecke gedrückt. Onyx grollte in meine Richtung und die kurzen schwarzen Haare in meinem Nacken flatterten. Sollte er mich doch fressen, mir egal. Ich musste zu meinem Mädchen.
Noch einmal brüllte Daireann und der Schmerz traf mich so unvermittelt, dass ich auf die Knie sank. Tyala, Mutter aller Drachen, steh uns bei. Auf allen vieren kroch ich weiter. Durch unsere Verbindung fühlte ich jetzt nur Ruhe und Erschöpfung. Der seltsame Druck und der Schmerz waren verschwunden - und das war vielleicht das schlimmste von allem. Vor meinen Augen sackte der weiße Drache in sich zusammen.
»Nein!« Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass ich geschrien hatte.
Nein, sie durfte mich nicht verlassen, sie … kippte zur Seite und grollte zufrieden. Ich hielt inne. Eine der Flügeltüren waren geöffnet und die orangeglühende Nachmittagssonne zeichnete Muster auf ihre Schuppen. Doch dort, gleich hinter ihrem Dornenkamm … Ich rappelte mich auf und ging weiter. Vorsichtig quetschte ich mich unter ihren Hinterbeinen und ihrem Schwanz hindurch, den sie leicht anhob.
Ich erstarrte. Aus den ganzen großen Steinen, die mir teils bis zum Knie reichten, hatte Dairann einen Halbkreis an die Mauer gestapelt, wie ein Nest. Und in dem Nest lag … Ich sah erst zu Dairenn, dann zu Onyx.
»Das habt ihr nicht gemacht! Ich dachte, ihr könnt euch nicht ausstehen?« Onyx schnaubte nur als Antwort.
Ich schüttelte den Kopf und versuchte zu verstehen, was ich da vor mir sah. Bis jetzt hatte ich noch nicht einmal die Zeichnung eines Dracheneis gesehen – geschweige denn ein echtes. Das war mindestens die letzten zweihundert Jahre nicht mehr vorgekommen.
Doch das große ovale Ding das mir bis zu den Oberschenkeln reichte, war eines. Anders konnte ich es mir nicht erklären. Daireanns weiß und Onyx’ schwarz vermischten sich in fantastischen Schlieren auf der Eierschale, lediglich unterbrochen von feinen, goldenen Adern. Die ganze Angst von gerade fiel von mir ab und ich lächelte die stolze Mama an. Träge blinzelte Daireann, ihre lavafarbenen Iriden glühend wie Bernsteine in der untergehenden Sonne.
»Es ist wunderschön.«
Daireann schnaubte und schloss die Augen. Vielleicht, vielleicht würden meine nächsten Tage doch nicht mehr so langweilig werden.
Vier Monate später
Ich zündete ein Räucherstäbchen und eine rote Kerze neben den anderen in dem schmiedeeisernen Gestell an. Die Flammen warfen zuckende Schatten in das Gesicht der Bronzestatue dahinter. Es war zur Hälfte das einer Frau, zur anderen das eines Drachen. Aus der Tasche meiner Samthose, die so weit war, dass sie beinahe als Rock durchging – was der ganze Zweck dahinter war –, holte ich die erste der beiden Holzfiguren. Das Ei war grob geschnitzt, die schuppige Oberfläche ungelenk eingeritzt, aber besser hatte ich es nicht hingekriegt.
Tief einatmend presste die Augen zu und dachte fest an meinen Wunsch, bevor ich das Holzei in die Schale mit den glühenden Kohlen warf. Schon jetzt nebelte der Geruch nach Sandelholz meine Sinne ein. Mein Blick glitt zu der menschlichen Hand der Statue, die in einen schuppigen Arm mit Dornen überging. Es hieß, wenn Tyala die Opfergabe annahm, würde das Licht sich auf ihrem Zeigefinger brechen. Aber nichts dergleichen geschah, die Glut warf gleichmäßige Schatten auf das glänzende Metall.
Ich presste die Lippen zusammen und griff nach der zweiten Figur. Das angeraute Zedernholz war rau unter meinen schwieligen Fingern, auch wenn ich viel der Hornhaut eingebüßt hatte, nachdem ich nicht mehr die Tätigkeiten eines Knappen ausführte. Vorsichtig hob ich den hölzernen Drachen über die Kohleschale und genoss die stechende Wärme an meinem Unterarm, ein guter Kontrast zur Kälte draußen. Ich schloss die Augen und lauschte den sakralen Gesängen, die aus einem hinteren Teil des Tempels zu mir durchdrangen.
Eigentlich war ich nie ein gläubiger Mensch gewesen, aber besondere Umstände erforderten besondere Maßnahmen. Entschlossen öffnete ich meine Hand und Augen und ließ den Holzdrachen fallen. Das Ei war schon teilweise in der Hitze am Verglühen und grauer Rauch stieg davon aus.
Bitte Tyala, bitte, flehte ich.
Ein Arm schob sich von hinten um mich und die Schnallen eines Ledermantels pressten sich in meinen Rücken. »Wusste ich doch, dass ich dich hier finde.« James‘ Atem streifte mein Ohr, trotzdem drehte ich mich nicht um.
Stattdessen atmete ich den Geruch des verbrennenden Zedernholzes vermischt mit dem Duft der Räucherstäbchen ein und sah zu, wie die Figuren zu Asche zerfielen. Trotzdem spiegelte sich kein Licht auf Tyalas Zeigerfinger. Meine Schultern fielen nach vorn und ich verzog den Mund. Seufzend legte ich meine Hand auf James’ muskulösen Unterarm. »Wusstest du, das Initial und Tyala historisch gesehen einmal die gleiche Göttin waren?«
James grub sein Kinn sacht in meine Schulter. »Tod und Drachen passt gut zusammen. Aber woher weißt du das?«
»In der Bibliothek deiner Großmutter gibt es viele interessante Bücher.«
Er schnaubte und eine der Kerzenflammen flackerte in dem Luftzug. »Wenn das so weitergeht, adoptiert sie dich bald.«
»Glaubst du, es ist dieses Mal auch so? Dass Drachen und Tod Hand in Hand gehen?« Ich blinzelte die Tränen weg. Es war blöd, sich emotional so an ein Drachenei zu binden. Wer wusste schon, wann überhaupt dieser Drache schlüpfen würde. Vielleicht wäre ich dann achtzig Jahre alt. Aber trotzdem, der Gedanke, dieses Ei von Daireann zu verlieren …
»Es braucht wahrscheinlich einfach Zeit.« James strich mir sanft mein schulterlanges Haar über die Schulter und vergrub seine Nase darin. »Noch ist es nicht so lange.«
Ich blies mir eine kinnlange Strähne aus dem Gesicht, löste mich aus seinem Griff und rieb mit dem Ärmel meiner Bluse die Ascheflocken von der Bronzestatue der Drachengöttin vor mir.
Sacht zog mich James zurück. »Komm, du hast alles getan, was du konntest. Ich will dir was zeigen.«
Neugierig drehte ich mich um und beim Anblick von James’ breitem Grinsen verengte ich die Augen. Die Schneeflocken auf seinen Schultern waren zu winzigen Wassertröpfchen geschmolzen. »Was hast du angestellt?«
»Ich gar nichts. Aber Thomas Maroon hat etwas rausgefunden, ich habe nur Geburtshilfe geleistet – beziehungsweise Onyx.«
»Du sprichst in Rätseln.«
In James’ dunklen Haaren fing sich der Kerzenschein einer der anderen Kerzen aus dem prunkvollen Kronleuchter hinter ihm. Dieser hing in der Mitte des Temples, dem Herzstück, von dem verschiedene Alkoven jeder der Gottheiten gewidmet war. In James’ blauen Augen funkelte der Schalk. »Irgendwie muss ich ja das Mysterium zwischen uns aufrecht erhalten.«
Er nahm meine Hand in seine und zog mich über den roten Marmorboden an einer Gruppe Damen der guten bürgerlichen Schicht vorbei. Ausschließlich alle waren in Kleidern und Wintermänteln in einem hellen Rotton gekleidet – die Farbe der Saison. Ich schnaubte nur bei den verdeckt lüsternen Blicken, die sie James zuwarfen. Der schien das gar nicht zu bemerken. Stattdessen zeichnete er kleine Kreise auf meinen Handrücken und stemmte sich gegen das mehrere Schritt große Holzportal des Tempels.
Beim gleißenden Sonnenschein kniff ich die Augen zusammen und trat in die Kälte, die augenblicklich in meine Wangen biss. Statt Schnee hatten sich nur traurige Pfützen auf dem Paradeplatz gebildete. Die wenigen Spaziergänger, die sich bei dem garstigen Wind draußen aufhielten, machten einen großen Boden darum. Und um Onyx, der mitten auf dem Platz stand und jeden vorbeigehenden Menschen mit seinen goldenen Augen ansah, als sei er sein nächster Nachmittagssnack. Was bei Onyx wahrscheinlich eine solide Annahme war.
James wollte mir über eine Pfütze helfen, doch ich marschierte mit meinen schwarzen Lederstiefeln direkt hindurch. Nur, weil ich jetzt offiziell eine Dame war, würde ich mich noch lang nicht so lächerlich verhalten. Mit einem Satz holte Jame auf und hielt mit großen Schritten auf Onyx zu. Sein Ledermantel schlug gegen seine Beine, als er sich zu mir umdrehte und mir vor dem Drachen einen Wollschal um den Hals wickelte, den er liebevoll verknotete. Dann setze er mir noch eine Brille auf. Bei den kalten Temperaturen würde mein Gesicht im Flug sonst eiskalt werden und sogar Erfrierungen davon tragen.
»Wir müssen uns leider etwas beeilen der Eiserne Rat wird es nicht gutheißen, wenn wir zu spät sind«, sagte James, als er zu seiner Zufriedenheit überprüft hatte, dass mein gefütterter Mantel fest verschlossen war. Aus seinem Drachenrittermantel zog er ein paar Handschuhe aus weichem Leder und reichte sie mir. Die gefütterten Handschuhe waren weich auf meiner Haut und passten wie angegossen. Wie sollte es auch anders sein. James hatte sie extra für mich anfertigen lassen. Wenn es nach ihm ging, sollte es mir an nichts fehlen.
Er gestikulierte mir, zuerst den Hals von Onyx hochzuklettern und ich folgte seiner Anweisung. Auch wenn die gepanzerte Halsschuppen des Drachen bei jeder meiner Berührungen leicht zuckten – so ganz hatten wir uns immer noch nicht aneinander gewöhnt.
»Der Eiserne Rat kommt?«, fragte ich schließlich und ließ mich in den Sattel fallen. Wie von selbst fanden meine Finger die Schnallen, die ich um meine Beine befestigte.
»Natürlich. Bei so einer wichtigen Vorführung.« James setzte sich in den Sattel und rückte näher an mich heran, als es notwendig war. Fest schlang er seine Arme um mich.
»Bereit?«, raunte er mir ins Ohr.
Ich nickte und gleich darauf erhob sich Onyx mit ein paar kräftigen Flügelschlägen in die Lüfte. Ein Mann auf dem Tempelplatz presste sich ehrfürchtig an eine der Backsteinwand eines Wohngebäudes und klammerte sich an seinen Zylinder, damit dieser von dem Windstoß nicht weggeweht wurde. Ich schmunzelte und beugte mich etwas tiefer auf Onyx’ Hals, damit der kalte Wind sich nicht zu sehr in meine Haut biss.
***
Der Flug dauerte keine Minute – eine Strecke, die ich zu Fuß eine knappe halbe Stunde gebraucht hätte – und der schwarze Drache landete auf einem gepflasterten Areal im Fabrikviertel. Ich runzelte die Stirn. Eigentlich hatte ich erwartet, dass wir zum Platz der Freiheit flogen und von dort aus ins Ratshaus gingen. Statt der prunkvollen Gebäude umgaben uns die tristen dunklen Ziegelsteinmauern der Fabrikhallen, mit dem ein oder anderen Fester eingelassen. Zwischen zwei war ein stählernes Gerüst mit einem Flaschenzug angebracht. Es soll wahrscheinlich beim Verladen von schweren Gegenständen helfen, denn rechts davon beginnen Eisenbahnschienen. Was wollte der Eiserne Rat hier? Ich kräuselte die Brauen. Das würde auf jeden Fall interessant werden.
James stieg zuerst ab, streckte seine Arme aus und fing mich den letzten Schritt auf, den ich absprang und küsste mich auf die Nase. »Habe ich dir heute schon gesagt, wie sehr ich dich liebe?«
Ich schlug im spielerisch auf die Brust. »Du hast gesagt, wir kommen zu spät. Los, wir wollen den Eisernen Rat nicht verärgern.«
James’ Gesichtsausdruck verhärtete sich, eine steile Falte bildete sich zwischen seinen Brauen. »Wenn mich der Tod meiner Mutter eins gelehrt hat, dann dass man den Menschen, die man liebt, genau das nicht oft genug sagen kann. Man weiß nie, wann sie einem aus den Händen und dem Herzen gerissen werden.«
Ich legte eine Hand an seine Wange und bereute es, dass das weiche Leder des Handschuhs uns trennte. »So schnell wirst du mich nicht los. Keine Sorge.« Ich zog seinen Kopf zu mir herunter und küsste seine Sorgenfalten auf der Stirn weg, die er in letzter Zeit zu häufig hatte. »Und jetzt komm. So wie ich dich kenne, sind wir schon zu spät.«
James schlang einen Arm um meine Schultern und presste mich in seine Seite. So führte er mich auf ein etwas verfallen aussehendes Fabrikgebäude aus Ziegelstein zu, das jedoch an einigen Stellen ausgebessert worden war. Im Gegensatz zu den anderen hohen Schornsteinen rauchte dieser nicht.
Ich beäugte die vielen edlen Kutschen, die sich an der langen Seite aufgereiht hatten. Die aus schwarz lackiertem Holz mit dem silbernen Waffen war von Lord Byron. Eine Begegnung mit ihm mochte ich so gerne, wie die Kälte des Winters, die sich durch jeder meiner Knochen fraß. Die Kutsche dahinter in einem edlen dunkelblau mit goldenen Laternen war bestimmt von Lord Wesley. Durch die unzähligen obligatorischen Teebesuche bei den Gemahlinnen der Lords des Eisernen Rats war mir jedes Wappen mittlerweile vertraut.
Insgesamt zählte ich elf Kutschen – alle Ratsmitglieder. Wahrscheinlich mit der Ausnahme von Lord de Burgh. Was wollte er auch hier, wenn sein Sohn ihn vertrat, wie gerade bei so vielen seiner Geschäfte. Mein Brustkorb fühlte sich wie zugeschnürt an bei dem Gedanken daran, während ich an James’ Seite durch Schneematsch auf eine Seitentür zu stakste.
An manchen Tagen dachte ich mir, dass James’ Opfer zu groß war. Dass er niemals anfangen hätte sollen, in den Fabriken seines Vaters zu arbeiten. Zu sehr belastete ihn die Arbeit, das Leid, alles, was damit zusammenhing und er doch nicht ändern konnte. Allerdings schien dieses Mal etwas anders zu sein. Entgegen seiner sonst so düsteren Miene, ging er fast schon beschwingt und hielt mir eine unauffällig aussehende Seitentür auf.
»Die Dame.«
Ich glitt durch den Türspalt, nur um zwölf Augenpaare auf mich starren zu sehen. Lord Byron stützte sich auf einem Gehstock ab, einen angesäuerten Ausdruck verschandelte sein ohnehin zu markantes Gesicht.
»Sir James. Wir hätten beinahe ohne Euch gestartet.« Lord Byron zwang sich zu einem Lächeln.
»Ach Byron, wegen mir findet dieser Zirkus überhaupt statt.«
Der getadelte Herr schnalzte mit der Zunge und drehte sich erneut zu dem großen Gebilde um, das in der leeren Fabrikhalle stand. Alle Mitglieder des eisernen Rats hatten sich darum gescharrt. Eine aus mehreren Jutesäcken zusammengenähte Decke war darübergelegt. Ich entdeckte ein bronzenes Rohr, das über den Boden aus der Fabrik führte. Ein zischendes Geräusch entwich den kleinen Spalten, an denen die Teile zusammengeschweißt waren. Der ausweichende Dampf verflüchtigte sich in der kalten Luft. Also irgendeine Maschine, die unter der Decke war.
James begleitete mich mit einer Hand an meinem unteren Rücken zu den Wartenden zu. Zwischen all den Herren in Fräcken, edlen Wintermänteln mit Pelzbesatz und Zylindern stand Thomas Moore. Er trug seine typische braune Lederschürze mit dem Gürtel darüber, an denen unzählige Werkzeuge hingen, die meisten davon mehr oder weniger rußverschmiert. Statt eines warmen Pullovers hatte er nur ein Leinenhemd an, natürlich den cremeweißen Stoff ebenfalls mit Ruß beschmiert. Er lächelte mich an und ich war froh, wenigstens ein freundliches Gesicht zu entdecken.
»Nun, da wir vollzählig sind, heiße ich Sie herzlich willkommen, meine Herren – und meine Dame.« Mister Moore wippte auf seinen schweren Lederstiefeln vor und zurück und machte damit ganz klar, dass er es sonst nicht gewohnt war, in der Gegenwart der mächtigsten Männer Ferridums zu sprechen. Seine rechte Hand spielte mit einem Schraubenschlüssel, der an seinem Werkzeuggürtel leise klimperte.
»Ich freue mich Ihnen … also Ihnen …« Hilfesuchend sah er zu James. Der drückte kurz meinen Arm als stille Verabschiedung und trat in den Kreis nach vorn. Er legte seinem Ingenieur eine Hand auf die breite Schulter des untersetzten Mannes.
»Danke Thomas. Ich kann gerne übernehmen. Meine werten Herren, geschätzte Victoria, es freut mich, Ihnen heute Mister Moores neuste Erfindung vorstellen zu dürfen.«
Neben mir rümpfte Lord Byron die Nase. »Eine Vorführung? Einer Maschine? Sollte dabei eine Frau anwesend sein?« Er warf mir einen Seitenblick zu. »Nichts für ungut, Lady Victoria.«
»Glaubt mir, Mylord, ich habe schon durchaus Schlimmeres gesehen. Furchtbarer als Drachenmist in Schubkarren aus einem Stall zu karren, kann es wohl kaum sein.« Ich lächelte ihn süffisant an.
Lord Byron hob wie zum trotz das Kinn und drehte den Kopf weg.
Fast etwas wie Stolz blitzte in James’ Augen auf. »Wie ich gerade sagte, präsentieren wir Ihnen heute eine neue Erfindung. Den Anfang fand diese im tragischen Ereignis des Zeppelinunglücks vor drei Monaten.«
Ein Raunen ging durch die Reihe der Männer. Lord Wexely, dessen Unternehmen der Zeppelin gehört, der explodiert war, lief rot an. Ich war mir sicher, dass das nicht an der Kälte lag, die in der Fabrikhalle herrschte.
»Wie dem auch sei, haben wir uns auf die Spurensuche gemacht und kamen darauf, dass Äther, wenn er im richtigen Mischverhältnis mit Luft zusammentrifft, höchstexplosiv ist.«
Neben mir knallte die Spitze eines Gehstocks auf den gepflasterten Hallenboden. »Ihr verschwendet unsere Zeit, de Burgh«, Lord Byron schüttelte den Kopf. »Dieses Land steht an der Schwelle kurz vor einem Krieg und Ihr haltet das wichtigste Regierungsorgan mit solchen Trivialitäten auf?«
Am liebsten hätte ich ihn in den Bauch geboxt, beherrschte mich jedoch. Über James’ Augen glitt ein gefährliches Funkeln. »Euch werden gleich diese Worte vergehen.« Er räusperte sich und setzte sein charmantestes Lächeln auf, während er seinen Drachenrittermantel gerade zog. Die Flugbrille hatte er noch auf der Stirn. Ich lächelte. So ganz würde er nie zu einem Fabrikbesitzer und Lord werden.
»Wie Sie sich vorstellen können, wären entsprechende Waffen von enormen Nutzen. In kleinen schwebenden Metallkugeln, wie sie gern zur Dekoration verwendet werden, befindet sich aber nicht genug Äther, um eine nennenswerte Explosion hervorzurufen.«
Explosion. Das Wort ballte sich zu einer eiskalten Kugel in meinem Magen zusammen und ich strich mich beinahe unbewusst über die Arme. Neben James wippte Thomas Moore immer aufgeregter auf seinen Ballen, als könne er es nicht erwarten, endlich zu zeigen, was genau er da gefunden hatte.
James’ Mine blieb unlesbar. »Wir hatten Glück. Kurz danach verschied Gráda, Tyala nehme sie in ihr Reich auf.«
»Einen toten Drachen nennt Ihr Glück?« Dieses Mal zog Lord Vansteed missbilligend eine rostrote Augenbraue hoch. »Das ist ein gravierender Nachteil in einem Krieg.«
»Wartet, Ihr werdet gleich verstehen.« James räusperte sich. »Bei der Autopsie des Drachen, der viel zu früh verstorben ist, fanden wir ein Organ. Es ist zwar in manchen alten Bücher dokumentiert, aber bis vor wenigen Wochen konnte es nie inspiziert werden.«
Ich runzelte die Stirn und ging im Geist alles über Drachen durch, was ich wusste – was, wenn man überlegte wie lange wir schon mit ihnen zusammenlebten – nicht sonderlich viel war. Weswegen auch Gráda an einer einfachen Krankheit versterben musste. Ich drückte das ungute Gefühl weg, das sich in mir ausbreitete bei dem Gedanken, etwas dergleichen könnte Daireann oder Onyx passieren.
James hingegen holte aus der Innentasche seines Mantels ein zusammengefaltetes Papier heraus. Es hatte viele Knicke und war an den Ecken eingerissen. Als er es raschelnd auffaltete, erschien darauf eine akkurate Zeichnung eines Organs mit allen Blutgefäßen, die in ihrer Eleganz und Filigranität nicht zum Erscheinungsbild passte. »Wir nennen dies eine Ätherblase. Es gibt zwei von ihnen, rechts und links unter den Flügeln. Darin tragen die Drachen flüssigen Äther in sich.«
Die Herren des Eisernen Rats wechselten einen Blick und mir schwirrte der Kopf. Drachen trugen Äther in sich? Natürlich war mir das ein oder andere Mal in ihrer Nähe der Geruch danach aufgefallen. Ich hatte dies aber immer dem Äther zugeschrieben, der an manchen Stellen durch feine Risse aus dem Boden austrat. Wieso hatte James nichts gesagt?
Weil du ihn nur noch selten siehst, seitdem er so viel für die Fabriken arbeitet, sagte eine leise Stimme in meinem Kopf.
James trat einen Schritt nach vorne und gab dem jungen Lord Brighton die Zeichnung, damit der diese genau inspizieren konnte. »Wir gehen davon aus, dass sie das überhaupt dazu befähigt, zu fliegen. Sie verflüchtigen ihn, er pulsiert mit dem Blut durch ihre Adern und sie werden leicht genug. Das Feuerballspucken ist nur ein Nebeneffekt, wenn ein Drache ausatmet und sich verdampfter Äther mit Luft mischt.«
Ein Nebeneffekt, den die Drachen verdammt perfekt kontrollierten. Aber es machte Sinn. Irgendwie mussten diese riesigen Echsen ja fliegen.
James trat auf seinen Platz zurück, als Lord Brighton die Zeichnung weiterreichte. »Stellen Sie sich die Frage, meine Herren: Was wäre, wenn wir einen Drachen mit technischen Mitteln nachbilden? Ein Zeppelin, der Feuer speien kann. Jedes Schlachtfeld wäre uns unterworfen, nie wieder wären wir so ausgeliefert. Jede Nation würde vor uns in die Knie gehen.«
Ein eiskalter Schauer lief mir über den Rücken allein, wenn ich an solch ein Gebilde dachte. Die perfekte Kriegsmaschine, einem Drachen nur in Geschwindigkeit nachgestellt. Mein Magen überschlug sich fast. Wie viele Menschen würden durch so ein Gerät sterben? Viel zu viele, war die Antwort.
James hob leicht das Kinn, einen triumphierenden Ausdruck auf den Lippen. »Doch dafür ist der erste Schritt, den Äther zu komprimieren. In flüchtiger Form braucht er zu viel Platz und ist zu leicht.« Er wich einen Schritt zurück und stellte sich neben die verhüllte Maschine. Dann grinste er und machte eine einladende Bewegung in Richtung Mister Moore. »Thomas, du hast die Ehre.«