Szene aus James' Sicht
Diese Szene spielt in der Nacht von Vics Gefangennahme
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Euer Knappe ist eine Frau. Die Worte von Vics – von Toris – Freund hallten in meinen Ohren wider. Wieder und wieder und wieder. Ich war wie erstarrt, hatte meinen Rücken weiterhin Lance, dem anderen Mann und dem Stadtgardist zugewandt. Tausend Bilder flackerten vor meinem inneren Auge auf. Vic. Tori. Vic. Tori. In meinem Kopf legten sie sich übereinander und wurden eins. Wurden wieder auseinandergezerrt. Toris Lachen, Vics Lächeln. Ich raufte mir die Haare und fuhrt fast schon schmerzhaft über meine Kopfhaut.
Wie hatte ich das nicht sehen können? Wie hatte mir das entgehen können? Die Stimme. Die Augen. Die … ich krallte mich am hölzernen Fensterrahmen fest und presste die Stirn an das kalte Glas.
Draußen auf der Straße bog eine Kutsche in Richtung Waterstone Park ab. Das Klackern der mit Messing beschlagenen Räder drang durch das Glas bis zu mir. Morgen früh würden wieder junge Ladys mit ihren Governanten davor flanieren und verstohlene Blicke zu meinem Haus werfen. Alles würde normal sein. Und würde es das nicht sein. Ich starrte zu der leuchtenden, einsamen Straßenlaterne an der Ecke zur Smithstreet.
Hinter mir räusperte sich der Freund von Vic. Aldin oder wie auch immer er hieß. Der Name war mir entfallen, als er ihren genannt hatte. »Entschuldigung, Sir James, aber …«
»Raus«, sagte ich leise.
»Ich habe –«
Schnell wirbelte ich herum, nahm einen Kristalldekanter und schmiss ihn an die Wand. »RAUS, habe ich gesagt!«
Roter Wein lief wie Blut neben dem Porträt von Nana die weiß verputzte Wand hinunter. Der Stadtgardist zog den Kopf ein und Aldins stolperte erschrocken zurück. Ich funkelte sie mit verengten Augen an. Mir wurde heiß und kalt und mein Kopf schwirrte.
Lance war so umsichtig und zog beide an ihrem Ärmel aus der Tür. Das Schließen deren Schlosses hallte in dem leeren Raum wider. Ich schloss die Lider und hielt meine Nasenwurzel mit Zeigefinger und Daumen fest.
Was nun?
Wieder klickte das Schloss.
»Ich habe gesagt –« wütend riss ich die Augen auf, doch erstarrte. Nana stand in einem weiß-silbrigen Kleid vor mir, mit dezenten kleinen schwarzen Lederapplikationen, ihr Gesicht regungslos und die Hände auf ihren Stock gelegt.
»Du bist es.« Meine Stimme war tonlos. Ich lehnte mich an die Wand neben dem Fenster und sank daran herunter. Der Drachenzahn schabte über den Parkettboden, der schwach im Licht des Kronleuchters glänzte.
Nana zog eine Augenbraue nach oben. »Hast du jemand anderen erwartet, mein Goldjunge?« Mit einem leisen Klicken bei jedem Aufprall ihres Gehstocks kam sie näher.
»Du hast es gewusst. Ich habe dich gefragt und du hast es mir nicht gesagt.«
Sie umrundete den hölzernen Schreibtisch und blieb vor mir stehen. »Natürlich habe ich es dir nicht gesagt. Zu früh und nichts von dem hätte funktioniert.«
»Funktioniert? Es hat gar nichts funktioniert! Ich habe mich in eine Frau verliebt, die nicht existiert! Und die jetzt im Kerker sitzt, verdammt nochmal.« Ich schlug mit der Faust auf den Parkettboden, sodass er vibrierte. Die Kristalle des Kronleuchters klirrten unter der Erschütterung leise.
»Es ist mir nicht verständlich, wie eine Frau nicht existieren kann und dabei im Kerker sitzen.«
Ich stöhnte genervt und vergrub den Kopf in den Händen. »Du weißt genau, wie ich das meine.«
»James, schau mich an.«
Widerwillig hob ich den Kopf und funkelte sie an. Noch immer fühlte ich Toris Finger auf meiner Haut, ihre Lippen auf meinen, wie sich mich seidig weich umschloss während ich in sie stieß und -
Ich presste die Lippen aufeinander.
»Das hier« Nana deutete mit dem Stock auf meine ganze jämmerliche Gestalt, »bist nicht du. Warst du nie und wirst es auch jetzt nicht werden.«
Ich sprang auf die Füße. »Das hier ist jemand, dem gerade das Herz rausgerissen wurde. Du solltest nach dem Tod von Mutter doch am besten wissen, wie sich das anfühlt!«
Kurz entglitt Nana ihre Haltung und der Schmerz legte sich über ihr faltiges Gesicht, doch im nächsten Moment fing sie sich wieder. »Und im Gegensatz zum Tod oder zu einem Gefangenenlager bist du sehr wohl in der Lage, etwas zu tun.«
»Ach ja, und was?«
»Liebst du sie?«
Die Frage traf mich mitten ins Herz. Gestern hätte ich gesagt, ja. Heute war Tori ein anderer Mensch. Vic war ein anderer Mensch. Zu wissen, dass sie ein und dieselbe Person waren, war gleichzeitig Himmel und Hölle. Das Beste und das Schrecklichste, was mir jemals widerfahren war. Und doch … trotz all dem, hatten sich meine Gefühle nicht verändert. Ich schnaubte, verärgert über mich selbst. Wie hatte ich mich so auf eine Frau einlassen können?
»Wenn du eine Antwort auf die Frage hast, und sie lautet ja, dann tu etwas.« Nana hinkte auf ihren Stock gestützt zur Tür.
»Und was?«, rief ich ihr hinterher.
Noch im Türrahmen drehte sie sich um, ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. »Du bist das Kind deiner Eltern, mein Goldjunge. Dir fällt schon etwas Kluges ein.«