Szene aus Jarsons Sicht
Die Szene ist das Gegenstück zum Soirée und hält vielleicht die ein oder andere Überraschung bereit.
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An der steinernen Wendeltreppe ging sie endlich vor, ihre weiche Hand glitt über das kalte, feuchte Eisengeländer und ich war froh, ihrem Blick entgangen zu sein. Ihre Berührung an meinem Oberarm brannte immer noch. Treppenstufe für Treppenstufe stieg ich ihr nach, immer weiter in die Tiefe. In den Tod. Ihre beschwingten Schritte so naiv, so ahnungslos, wie sie eben war. Das kleine Lamm auf dem Weg zur Schlachtbank. So unschuldig, so dumm.
Meine Fingerspitzen glitten über die rauen Steine der Wände, damit ich endlich etwas anderes spürte, als das Echo ihrer Berührung. Oder ihr Duft nach Sommerblumen, der mich benebelt wie es kein Alkohol der Welt vermochte. Aber das alles würde ihr nichts helfen. Und sie hatte nicht die geringste Ahnung.
Élèntine hatte so hart gekämpft, ihre Narben zu zeigen und sie verstand nicht einmal die Demütigung, zu der ich sie zwang. Wieder einen Hut zu tragen, eine Maske.
Sie vertraute mir.
Der Gedanke stach direkt in mein Herz, doch Schwäche würde ich mir heute nicht erlauben.
»In Ferlacroix gibt es so etwas nicht. Nur der König darf Geliebte haben«, riss sie mich aus den Gedanken.
»Wo bleibt denn da der Spaß, ma chérie?« Meine Stimme klang belegt, doch sie merkte es nicht und stieg unbeirrt weiter.
»Wo ist denn nun die Überraschung?«
Das dumpfe Dröhnen der Gespräche aus dem Weinkeller wurde leiser. Der Geruch von schalem Wein fast beißend in meiner Nase. Alle wussten, dass sie kommt. Kannten den Zweck und doch roch ich etwas Angst in der Luft. Zweifel. Wegen ihr? Wegen Cayden? Es war egal. Mir lief die Zeit davon.
Vor uns öffnete sich das alte Gemäuer des Kellergewölbes, die Innereien der Burg. Sie nahm den Geruch nach Moos, altem Holz, dem Schweiß der anderen und den Geruch des Weins nicht wahr, doch mir würde es ein Leben lang in Erinnerung bleiben. Dieser Abend. Ihr Herz macht einen Stolper, dann noch einen. Wie angewurzelt stand sie neben mir, die Augen rund und die vollen Lippen zu einem sachten "o" geöffnet. Wunderschön und ein Glitzern in den Augen, wie ein Diamant im Sonnenlicht. Kurz wünschte ich mir, dass es nicht so enden müsste, dass es einen anderen Weg gäbe. Doch sie war der einzige Weg an die Macht. Es spielte keine Rolle, dass sie nett war, es gut mit mir meinte. Sie musste aus dem Weg und ich tat gut daran, mich zu erinnen.
Die ersten verstohlenen Blicke hafteten an uns. Hinter den ledernen und hölzernen Masken konnte ich die fragenden Augen erkennen. Ich durfte keine Schwäche zeigen. Élèntine hatte sich noch immer nicht bewegt, lauschte den fröhlichen Tönen der Geige.
»Du hast doch gesagt, dass du die Feste aus Laysolleilée vermisst. Nach deiner Nahtoderfahrung dachte ich, du könntest etwas Spaß gebrauchen.«
Ein Diener kam auf uns zu und streckte uns ein silbernes Tablett entgegen, auf dem Gläser standen. Normaler Wein. Ein vorsichtiger Anfang. Ich nahm zwei Gläser und reichte ihr eines. »Auf das Leben.«
»Auf das Leben.«
Ein nicht so kleiner Teil von mir hoffte, dass sie misstrauisch würde. Das ganze hinterfragte, doch sie nippte nur weiter an dem Glas. Der Wein färbte ihre Lippen in ein sinnliches Rot und obwohl ich mich selbst dafür hasste, wurde mir heiß unter dem plötzlich zu engen Kragen. »Weißt du, woher der Brauch des Anstoßens kommt?«, fragte ich.
»Nein, aber du wirst mich sicher bald erhellen.« Sie schenkt mir ein Schmunzeln, das ich nicht verdiene.
»Wenn früher zwei Handelspartner angestoßen haben, haben sie es so heftig getan, dass der Wein des einen in den Becher des anderen geschwappt ist. So wollten sie verhindern, vergiftet zu werden.«
»Hätte ich das mal besser mit dem Botschafter getan.«
Ich blickte sie einen Moment ungläubig an und brach dann in schallendes Gelächter aus. Wie konnte sie so sein? So sorglos? So leicht? Einige Werwölfe musterten uns kritisch und kassierten einen scharfen Blick von mir. Schnell wandten sie den Kopf wieder ab.
»Was ist das genau für ein Fest?«
»Wie ich schon sagte, es ist für dich. Was magst du zuerst machen? Karten spielen? Tanzen?«
Ihr Blick schweifte durch den Raum und blieb an einer leeren, gemütlich aussehenden Chaiselongue vor den Weinfässern hängen. »Ich denke, ich muss das Ganze erst einmal wirken lassen.«
»Eine vorzügliche Wahl. Im Faulenzen bin ich hervorragend.« Ich bot ihr wieder meinen Ellenbogen und wie selbstverständlich glitt ihre Hand in die Beuge. Als gehörte sie dorthin. Als würde sie nichts anderes wollen und ich hasste mich kurz dafür, was ich ihr antun würde.
»Ich hätte nichts anderes von dir erwartet.«
Ich grinste und ignorierte das flaue Gefühl im Magen. Ihre kühlen Finger nur durch den dünnen Stoff des Hemds getrennt, geleitete ich sie zu dem Zweisitzer, auf dem ein schwarzes Schafsfell lag. Wie ironisch. Sie sank seufzend in die weichen Kissen. »Weiß Cayden davon?«
Sofort verschwand das warme Gefühl an meinem Arm, der nagende Zweifel. Sie hatte ihre Wahl getroffen und sie würde dafür bezahlen. Ich lächelte. »Cayden vergräbt sich lieber in seinem Kuriositätenkabinett.«
Das nächste Musikstück war langsamer, melancholischer. Einige Werwölfe verfielen in eine enge Tanzhaltung und schwelgten im Takt. Sie drehte den Kopf zu mir und blickte tief in meine Augen und mit der Kraft eines Trolls schlug mich das Gefühl wieder ins Gesicht. Stärker als je zuvor.
Ein leichtes Lächeln schlich sie auf ihre Lippen. »Das war eine schöne Idee. Vielen Dank. Und nicht nur dafür. Ich habe dir so viel zu verdanken.«
»Wieso?« Ich schluckte, gebannt von ihrem Blick. Eingefroren zu einer Statue. Das warme Gefühl verstärkte sich, schwoll in meiner Brust an, drohte, die Kontrolle ganz über mich zu übernehmen.
»Du warst der Einzige, der sich von Anfang an bemüht hat, nett zu mir zu sein. Ohne dich hätten sich diese kalten Gemäuer hier nie wie ein Zuhause angefühlt.« Sielegte meine Hand auf meine. Mit dem Daumen fuhr sie sacht über meinen Handrücken und ich schauderte leicht unter der Berührung. »Also, danke, Jarson. Das bedeutet mir viel.«
Wir schauten einander an und das warme Gefühl erfüllte jede Pore meines Körpers. Der Wein fleckte ihre Lippen und kurz flackerte mein Blick zu ihnen. Wenn ich sie jetzt küsste, würde ich ihn schmecken. Die Gespräche rückten in den Hintergrund und es gab nur sie und mich. Unsere eigene Welt. Meine Hand schloss sich um ihre Finger, langsam, zaghaft. Doch sie zog sie nicht weg. Ich konnte sie nicht töten. Ich wollte sie nicht töten.
Der scharfe Geruch von Wein gemischt mit EIsenhut schlug mir in die Nase und traf mich wie eine Bratpfanne ins Gesicht.
Rigarn lächelte, als er uns das Tablett entgegenstreckte, doch es erreichte seine Augen nicht. Ein leichtes Nicken in meine Richtung.»Noch Wein, Eure Hoheit?«, fragte er.
Sie blinzelte und ich fällte die Entscheidung während eines halben Herzschlags. »Will sie nicht, geh weg«, sagte ich in einem scharfen Ton. Rigarns Augen weiteten sich unter der Maske, er verstand mich nicht.
Da waren wir schon zu zweit.
Élèntine verzog diese wunderbaren Lippen zu einem Schmollmund. Wie ein trotziges kleines Kind und trotzdem regte sich in mir der Drang, sie zu küssen. »Ich wollte vielleicht noch etwas trinken.«
»Aber nicht von ihm. Das ist Rigarn, er war ein enger Freund von Morgyn. Wer weiß, vielleicht hat er in den Wein gespuckt, nur um dich zu ärgern. Ich hole uns etwas.«
Ich musste mir etwas einfallen lassen. Dringend. Denn so ging es nicht weiter.
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